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Frauen der Geschichte

Wie die jüdische Partisanin Faye Schulman den Holocaust überlebte

Wie Faye Schulman als jüdische Partisanin den Holocaust überlebte

Bild: watson
Frauen der Geschichte
In dieser Serie wollen wir euch 7 Frauen vorstellen, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben. Heute Teil III: Faye Schulman (1923–2015), die jüdische Partisanin.
15.07.2019, 19:0416.07.2019, 18:32
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«Immer noch leugnen zu viele Menschen den Holocaust. Noch mehr Menschen glauben weiterhin fest an den Mythos der Passivität der Juden, an die irrige Ansicht, dass sechs Millionen Juden gefügig in den Tod gegangen seien wie die Lämmer zur Schlachtbank. Es ist wichtig, künftigen Generationen zu sagen, dass dies nicht wahr ist.»
Faye Schulman, «Die Schreie meines Volkes in mir» (1995)

Fagel wartet schweigend zwischen den Kiefern am Rande der Stadt. Hier wurde sie geboren. Hier war sie mit ihren sechs Geschwistern aufgewachsen in dem riesigen, verwinkelten Haus, das ihr Vater liebevoll gebaut hatte.

Als das Signal gegeben wird, greift sie mit ihren Partisanenbrüdern an. «Hurra!» rufen sie und brennen das Hauptquartier der Nazis über ihren Köpfen nieder. Schüsse fallen.

Fagels polnische Heimatstadt hiess Lenin. Der gleichnamige Vater der russischen Revolution hatte allerdings wenig damit zu tun. Lenin gab's schon vierhundert Jahre vor seiner Geburt. Die Stadt wurde, so erzählt es die Legende, nach Lena benannt, der einzigen Tochter eines angesehenen Adligen. Sie hatte sich vor lauter Liebeskummer in den Fluss geworfen, weil ihr Vater den einfachen Mann, den sie liebte, von wilden Tieren zerfleischen liess.

Jetzt halten andere wilde Tiere die Stadt besetzt. Die Bauern der Umgebung berichteten den Partisanen, dass die Nazis Mühe hätten, die Gräben mit Erde bedeckt zu halten. Immer wieder würden sie sich öffnen – wie eine riesige blutende Wunde.

Es ist das Blut von 1850 jüdischen Frauen, Männern und Kindern. Das Blut von Fagels Familie.

Seit sechs Wochen kämpft sie bei den Partisanen. Sie öffnet die Tür ihres Elternhauses, das einmal so voller Leben war. Jetzt ist es still. Kartoffelschalen liegen auf dem Boden. Die Kollaborateure, die drinnen sassen, haben es fluchtartig verlassen.

«Zünd es an!», schreit sie dem blonden Partisanen zu. Er schüttet Benzin auf den Wohnzimmerboden, sie wirft brennende Zündhölzer drauf. Im Nu steht das ganze Haus in Flammen.

Lenin Faye Schulman
Die Ruinen des Elternhauses von Fagel Lazebnik, nur die Kamine stehen noch. bild: jewishpartisans

Lenin war eine Grenzstadt, auf der anderen Seite des Flusses lag die Sowjetunion, mit der die Stadt durch eine stets gut bewachte Brücke verbunden war. Als Fagel noch klein war, zählte Lenin 12'000 Einwohner, die Hälfte davon waren Juden. Dazu kamen Tausende polnische Soldaten mit ihren Familien, die wegen der strategischen Lage der Stadt dort stationiert waren. Raus oder rein kam man nur mit einer Bewilligung.

Vielleicht war das der Grund, warum die Bewohner der Stadt eine so enge Bindung zueinander hatten. Das fünfzigjährige Jubiläum des Popen wurde nicht nur von den Christen, sondern ebenso von der jüdischen Gemeinde gefeiert. Sie schenkte ihm ein Buch mit goldenem Einband.

Die meisten waren Weissrussen, dennoch war Lenin eine polnische Stadt, in der die Geschäfte auf Polnisch gemacht wurden. Die jüdischen Kinder sprachen vier Sprachen; Weissrussisch auf der Strasse, Polnisch in der Volksschule, Jiddisch zuhause und Hebräisch im Cheder, der jüdischen Schule. Und bald sollte noch Russisch dazukommen.

Juden durften zwar keine öffentlichen Ämter bekleiden und hatten keinen Zugang zur Universität, doch es war ihnen möglich, ihren Lebensunterhalt als Handwerker, Ladenbesitzer und Händler zu bestreiten.

Lenin Faye Schulman
Lenin vor dem Krieg. Zu sehen ist die Brücke über den Fluss Slutsch.bild: wikimedia

Fagels Familie war zu Anfang einigermassen wohlhabend, sie führte eine Tuchhandlung. Aber immer wenn Arme in den Laden kamen und dem Vater vorjammerten, dass ihre Kinder am Verhungern seien, knickte er ein. Er gab ihnen ein paar Streifen Stoff, ohne dafür Geld zu verlangen.

Und irgendwann waren die Regale leer.

«Mein Vater war ehrlich und freigiebig; was aber dabei herauskam, war ein erfolgloser Geschäftsmann, der seine eigene Familie nicht ernähren konnte.»
Faye Schulman

Also musste Fagels Mutter arbeiten und das tat sie den ganzen Tag. Für eine jüdische Familie war das nichts Ungewöhnliches, der Mann widmete sich dem Studium der Religion und dem Gebet, während sich die Frau um den Haushalt kümmerte. Bald richtete sie im Erdgeschoss eine kleine Gaststube ein, um das Einkommen der Familie aufzubessern. Und auch die Kinder halfen, sobald sie alt genug dafür waren.

Fagels Eltern: Rajzel und Jakow Lazebnik.
Fagels Eltern: Rajzel und Jakow Lazebnik.bild: jewishpartisans

Fagel hatte sechs Geschwister. Ihr ältester Bruder Moische machte im weissrussischen Pinsk eine Lehre als Fotograf. Von ihm lernte sie das Handwerk, das ihr im kommenden Krieg das Leben retten wird.

«Wir sonnten uns in der Liebe unserer Eltern. Ich glaube, dass es diese Liebe war, aus der ich in den späteren Jahren jene Sicherheit und Kraft schöpfte, die ich so sehr brauchte.»
Faye Schulman

Am 1. September 1939 fiel die Wehrmacht in Polen ein. Hitler und Stalin hatten in einem Geheimabkommen das Land unter sich aufgeteilt. Der Westen fiel an Deutschland, der Osten an die Sowjetunion – und mit ihm auch Lenin.

Fagels altvertrautes Polen existierte nicht mehr. Ihr Name wird russifiziert, fortan heisst sie offiziell Faina. Russisch wird zur Amtssprache, die sie nun in der Abendschule zu lernen hat. Es schien, als wäre der Verlust des Tuchgeschäfts ein paar Jahre zuvor ein Glücksfall für die Familie. Denn die wohlhabenden Leniner wurden unter der sowjetischen Besatzung nach Sibirien deportiert – sie wurden als Kapitalisten verschrien, als «Ausbeuter des Volkes».

Fagel arbeitete als Fotografin. Sie verdiente gut und konnte so einen Teil der väterlichen Schulden begleichen. Es gab immer viel zu tun, weil jeder in diesem riesigen Staat einen Pass mit Foto bei sich tragen musste. Manchmal fotografierte sie Bauern, die bis dahin ihr Spiegelbild nur im Fluss gesehen hatten.

Eines Abends am Sabbat klopfte ein sowjetischer Offizier an die Tür. Die Familie hatte gerade ihr Tischgebet gesprochen. Der Offizier verlangte nach einem Foto, Fagel aber weigerte sich. Er wurde wütend und drohte ihr mit dem NKWD, doch Fagel sagte bloss: «Am Sabbat mache ich keine Bilder.» So stur war sie damals als 16-jähriges Mädchen.

Faye Schulman
Fagel im Alter von 14 Jahren.bild: jewishpartisans

Aus dem Westen flohen die Juden zu Tausenden in den Osten. Im Winter 1940/41 war die Grenze noch nicht vollständig abgeriegelt. Auch nach Lenin strömten die Leute und so breitete Fagels Vater Stroh in den Zimmern des Hauses aus. An der Tür brachte er ein Schild an, auf dem zu lesen war: «Wer keine Schlafstelle hat, ist willkommen. Dieses Haus steht jedem offen.»

Und tatsächlich war es immer voller Menschen, die von den schlimmen Zuständen in ihrer Heimat berichteten. Auch Fagels Schwester Sonia lebte in jenem von den Nationalsozialisten besetzten Teil Polens, zusammen mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter. Ihr Bruder Kopel war es, der sich auf die gefährliche Reise begab und sie mit den beiden Kindern nach Lenin zurückbrachte.

Irgendwann liess die Regierung verlautbaren, die Lage im Westen habe sich beruhigt. Viele der Flüchtlinge hatten Heimweh, sie vermissten ihre Verwandten und Freunde, von denen sie getrennt worden waren. In Polen hatten sie keine dauerhafte Bleibe und so meldeten sich viele für die Registrierung, um nach Hause zurückkehren zu können. Doch diese Menschen wurden nicht in ihre Dörfer zurückgebracht. Man schickte sie nach Sibirien. Ganz nach dem Motto: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!»

«Damals empfanden wir das Schicksal dieser Menschen als tragisch. Niemand hätte voraussehen können, dass ironischerweise Sibirien der sicherste Ort für einen Juden werden sollte.»
Faye Schulman

Am 22. Juni 1941 greift die Wehrmacht das sowjetisch besetzte Polen und die Sowjetunion an. Zwei Tage später ist sie in Lenin. 22 Monate hatten die Sowjets über die Stadt geherrscht, nun stoben sie in Panik davon.

Die Soldaten zogen durch die Stadt, sie marschierten über die Brücke nach Russland. Auf dem Weg dahin aber fielen sie in die Häuser der Juden ein.

Nun begann der Terror. Manche der Männer führten die Juden zum Friedhof und liessen sie um die Grabsteine tanzen. Wer ihnen die Tür nicht öffnete, wurde erschossen. Fagel und Sonia mussten sich bei einem solchen Überfall ausziehen und an die Wand stellen. Die beiden Soldaten standen hinter ihnen und zielten auf ihre nackten Rücken. «Ihr dreckigen Juden!», schrien sie. «Euch muss man ausrotten! Drecksäue seid ihr!»

Plötzlich kamen zwei andere Männer rein und sagten, sie müssten sich beeilen, sonst verlören sie ihre Truppe. Dann verliessen sie das Haus.

Die Nazis übernahmen die Verwaltung der Stadt und Fagel musste für sie fotografieren. «Sie waren besessen davon, ihre Aktionen zu dokumentieren.» Sie schreibt, dass unter den Tausenden, denen sie begegnete, nur einer nett war. Er legte ihr einige Mal ein Stück Brot auf den Rand des Brunnens, bei dem sie jeden Tag Wasser holen musste. Der Weg führte an seinem Büro vorbei. Er hatte Mitleid mit dem ausgemergelten Mädchen. Irgendwann kam er nicht mehr. Später erfuhr Fagel, dass er verhaftet worden war. Er hatte sich dem Befehl verweigert, jemanden zu erschiessen.

Die Suppe, die Fagels Familie damals ernährte, bestand aus Wasser und Mehl. Gelegentlich kam eine Kartoffel hinzu. Irgendwann durften die Juden nicht mehr den Gehsteig benutzen. Die Strassen leerten sich und sah man hin wieder doch einen, hetzten die Nazis ihre abgerichteten Hunde auf ihn.

«Ein anderes Mal nahmen sie sich zum Vergnügen ein junges Paar mit sechs Monate alten Zwillingen vor. Zwei Nazis marschierten in ihr Haus und brachten die Zwillinge in den Hof. Der eine hielt die Säuglinge fest, riss ihnen die Gliedmassen aus und warf sie hoch in die Luft. Der andere Nazi benutzte die Arme und Beine als Zielscheibe. Lachend trieben sie ihr Spiel weiter, bis von den Säuglingen nichts mehr übrigblieb.»
Faye Schulman​

Als Fagel am nächsten Tag aus dem Fenster schaut, sieht sie zwei Leichen direkt vor der Haustür liegen – die Arme und Beine starr in die Höhe gereckt. Offenbar waren sie nicht sofort tot, sie hatten sich in der Nacht noch gewunden und sind dann in jener grotesken Haltung in ihrem eigenen Blut festgefroren. Es waren die Eltern der Zwillinge.

Im Mai 1942 wurden die kräftigen Juden ins Zwangsarbeitslager deportiert. Fagels Brüder Moische und Kopel gehörten dazu. Der Rest, Frauen, Kinder, Alte und Kranke wurden im Ghetto zusammengepfercht. 50 bis 60 Familien sperrte man in ein kleines Häuschen. Täglich verhungerten Menschen. Manchmal versuchten die Christen, Essen ins Ghetto zu schmuggeln, aber das war gefährlich.

Fagel hatte Glück. Sie war Fotografin und gehörte damit zu den wenigen Personen, die das Ghetto verlassen durften. Fliehen aber war ihr unmöglich, die Nazis hätten sofort ihre Familie getötet. Sie übten stets kollektive Vergeltung.

Als der Gebietskommissar in Lenin eintraf, wurde Fagel ins Gestapohauptquartier bestellt. Sie sollte ihn fotografieren. Er setzte sich auf den Stuhl und brüllte: «Wenn das Bild nichts taugt, bist du kaputt!»

Fagel schaute ihn nur durch ihre Linse an, niemals direkt. Doch als sie die erste Aufnahme gemacht hatte, fürchtete sie, ihm könnte sein eigener tierischer Gesichtsausdruck missfallen. Und so erlaubte «ich, die Jüdin, mir, den Gebietskommissar um ein Lächeln zu bitten.»

Am nächsten Tag wurden alle im Ghetto auf dem Appellplatz zusammengetrieben und durchgezählt. Wer sich versteckte, wurde erschossen. Fagel wurde abermals ins Hauptquartier geschickt, doch dieses Mal entliess man sie ohne Fotoapparat wieder.

Weinend lief sie zurück zu ihrer Mutter. Ohne ihn war sie doch nichts wert. Sie schlief nicht in dieser Nacht. Der Morgen dämmerte erst schwächlich herauf, als es abermals hiess: «Alles raus!» Fagel half ihrer Schwester Sonia, den Kindern saubere Kleider anzuziehen.

Sonias Kinder Borchke und Lea.
Sonias Kinder Borchke und Lea.bild: faye schulman, die schreie meines volkes in mir

Wortlos drückt sie die beiden an sich. Draussen heisst es, sie solle zu den Deutschen hinübergehen. Sie steht direkt neben dem Gebietskommissar, dann wird sie weggeführt – mit dem Gewehrkolben im Rücken. Doch sie gehen am Erschiessungsplatz vorbei zur Synagoge. 26 Menschen befinden sich darin. Die Familien eines Tischlers, eines Schusters, eines Hufschmieds und eines Malers. Fagel ist die Nummer 27. Und sie ist ganz allein.

«Ich wusste, dass die letzten Minuten des Lebens meiner Familie gekommen waren. Mir kam es vor, als würde ich in einem Meer der Schmerzen und der Trauer ertrinken. Ich wollte nicht als Einzige übrigbleiben. Was hätte es für einen Sinn, die einzige Überlebende meiner Familie zu sein? Ich wollte mich hinausstürzen und mit meiner Familie sterben.»
Faye Schulman​

Doch die anderen hielten Fagel zurück. Sie alle würden sonst getötet werden. Vom Fenster aus sieht sie, wie die Menschen zu den drei Gräben gefahren werden. Wie sie alle ohne Unterschied gezwungen werden, sich auszuziehen. Sie hört die Maschinengewehre und die Schreie. An diesem 14. August 1942 wurden auf Befehl des Gebietskommissars 1850 Juden umgebracht. Darunter Fagels Mutter Rajzel, ihr Vater Jakow, ihr kleinster Bruder Boruch, ihre Schwester Esther und ihr Mann Mejer, ihre Schwester Sonia und ihre beiden Kinder Borchke und Lea. Sie waren zwei und fünf Jahre alt und wurden lebend in den Graben geworfen – «die Nazis verschwendeten keine Kugeln an Kinder.»

Die Mörder fotografierten alles. Und brachten Fagel die Filme zum Entwickeln. Sie machte Kopien für sich selbst. Sie wusste, dass sie bald ersetzt werden würde. Ihr wurde aufgetragen, ihr Wissen Marischa, einem ukrainischen Mädchen, weiterzugeben. Flucht war noch immer keine Möglichkeit, sie würde damit die 26 anderen in den Tod schicken.

Doch dann griffen die Partisanen die Stadt an. Ein jüdischer Bursche aus Lenin schrie: «Lauft, so schnell ihr könnt!» Sie hatten ein paar Nazis getötet. Dafür hätte man sich sofort an den bisher verschonten Juden gerächt.

Fagel rennt in den Wald, den Partisanen hinterher. Dort schickt man sie erstmal zum Kommandanten. Denn Juden nimmt man da nicht auf, wenn sie unbewaffnet sind. Eine Frau noch viel weniger. Doch der Kommandant kennt ihre Geschichte. Und er denkt, weil ihr Schwager Mejer Arzt war, habe sie sicher auch medizinisches Wissen. Fagel darf bleiben. Sie reisst den gelben Davidstern von ihren Kleidern und marschiert mit den Partisanen durch die Wälder, bis ihre Füsse bluten. Sie klagt nicht. Sie weiss, dass man sie beobachtet. Ob sie kräftig genug sei. Sie ist es.

Erschöpft legt sie sich auf den Boden und fühlt sich zum ersten Mal seit langem wieder als Mensch.

Fagel war eine von Tausenden junger Jüdinnen und Juden, die unter den Partisanen kämpften. Sie wurden alle in der Tradition der Gelehrsamkeit erzogen, viele hatten zuvor niemals ein Gewehr in der Hand gehalten. Sie passten sich an. Aber ganz egal wie tapfer sie auch kämpften, auch in den Reihen jener sowjetischer Guerillas waren sie nicht willkommen. Selbst hier grassierte der Antisemitismus, hunderte wurden erschossen in der Annahme, sie seien Spione, Kollaborateure oder eben das, was sie tatsächlich waren: Juden. Juden, die der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten entkommen waren.

Um sich zu beweisen, meldeten sich die jüdischen Partisanen stets freiwillig für die gefährlichsten Aufträge. Ging einer dann vor seinen Mitkämpfern, hiess es: «He! Warum gehst du voran? Bist du etwas Besseres als wir?» Ging er stattdessen hinter den anderen, hiess es: «He! Warum trödelst du? Bist du ein Feigling?»

Fagel lernt schiessen. Ihr Gewehr wird vom September 1942 bis Juli 1944 ihr Pass, ihre Lebensversicherung und ihr Kissen sein.

Faye Schulman
Fagel bei einer Schiessübung, Anfang 1943.bild: via jewishpartisans

Die Partisanen zerstörten Eisenbahngeleise und Brücken, sie sprengten feindliche Züge in Luft, die Munition und Lebensmittel an die Front brachten. Sie überfielen besetzte Städte und Dörfer und versuchten sich mit der einheimischen Bevölkerung zu verbünden. Die Juden unter ihnen brachten den Zivilistenlagern zu essen, was von den meisten anderen nicht gern gesehen wurde – solche Hilfsaktionen vergrösserten die Gefahr, entdeckt zu werden.

Fagel gehörte zur Brigade Molotov – die beste der Provinz Minsk. Sie bestand hauptsächlich aus sowjetischen Offizieren und Soldaten, die aus deutschen Gefangenenlagern geflohen waren. Manche waren auch während des Rückzugs der Roten Armee im Sommer 1941 in die Wälder gegangen, um von dort aus gegen die Deutschen zu kämpfen. Während des Zweiten Weltkrieges waren die sowjetischen Partisanenverbände die grössten, auf ihrem Höhepunkt zählten sie etwa 200'000 Mitglieder, darunter 20'000 bis 25'000 Juden.

In der Brigade Molotov kämpften rund 2000 Männer und acht Frauen. Waren Fagels Partisanenbrüder zufrieden mit ihrer Leistung, sagten sie: «Du bist genauso gut wie ein russisches Mädchen.» «Ja», antwortete sie dann. «Aber ich bin eine Jüdin.»

Wer nicht wusste, dass sie Jüdin war, den liess sie in dem Glauben. Vor allem dem einen Partisanen sagte sie nichts. Bei einer gemeinsamen Unternehmung begegneten sie einmal einem zerlumpten jüdischen Mädchen und er sagte: «Wie ich alle Juden hasse! Am liebsten würde ich sie alle umbringen. Dir gegenüber habe ich andere Gefühle. Du bist Russin. Es ist eine Freude, mit dir zusammenzusein.»

Erst musste sie ihre Zimperlichkeit beim Anblick von Blut und Wunden ablegen – sie wurde als Krankenschwester eingesetzt. Sie lernte alles von Iwan, dem Oberarzt ihrer Brigade. Eigentlich war Iwan Tierarzt, aber in den Wäldern war man nicht wählerisch. Er war einer der wenigen nichtjüdischen Doktoren, die sich den Partisanen angeschlossen hatten. Und er war kein Antisemit. Iwan wurde Fagels Freund. Immer wieder bürgte er für sie, wenn sie falschen Verdächtigungen der Männer ausgesetzt war – und rettete ihr damit mehrmals das Leben.

Der Partisan rechts im Bild hatte Fagel gegenüber nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Juden gemacht; er wusste nicht, dass sie Jüdin war.
Der Partisan rechts im Bild hatte Fagel gegenüber nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Juden gemacht; er wusste nicht, dass sie Jüdin war.bild: faye schulman, die schreie meines volkes in mir

Das Operieren war sehr schwierig, es gab kaum Medikamente und als Desinfektionsmittel stand nur Salzwasser zur Verfügung, was bedeutete, dass zum Kochen niemals nur ein Körnchen Salz übrigblieb. Den Schmerz versuchte man mit Wodka zu lindern.

Diesen flösste sie ihrem Kommandanten Pawel reichlich ein, als ihn ein Schuss böse am Finger verletzt hatte. Das Fleisch war weg, da ragte nur noch der nackte Knochen raus und so wollte die Wunde nicht heilen. Also versuchte Fagel, den Knochen mit einer Zange abzuzwicken, was nicht ganz gelang. Am Ende biss sie den Knochen mit ihren Zähnen durch. Danach erholte sich Pawel schnell.

Fagel assistiert bei einer Operation. In Notfällen schnitt sie Kugeln selbst raus.
Fagel assistiert bei einer Operation. In Notfällen schnitt sie Kugeln selbst raus.bild: jewishpartisans

Als die Partisanen Lenin das erste Mal überfielen, holte sich Fagel ihre Fotografie-Ausrüstung zurück. Die Schüsse donnerten durch die Nacht und als sie vor dem Haus ihrer ukrainischen Nachfolgerin Marischa stand, lagen ihre Sachen bereits auf dem Gehsteig. Die Mutter hatte sie für Fagel hingelegt. Marischa selbst war mit den Nazis weggelaufen.

Auf einmal kam eine Frau auf sie zu, Fagel kannte sie nicht, doch sie schien Fagel zu kennen, denn sie überreichte ihr den Leopardenmantel, den ihr die Nazis einst abgenommen hatten. Dieser Mantel sollte alle Strapazen ihres weiteren Partisanen-Lebens überstehen und sie auch in den kältesten Nächten warmhalten.

Endlich konnte Fagel wieder fotografieren. In den Pausen schoss sie Bilder von sich und ihren Brüdern, über hundert Aufnahmen machte sie in dieser Zeit. Sie entwickelte sie am Boden – mit Hilfe von Decken.

«Wenn mir etwas zustiess, erzählte ich niemandem davon. Ich war ganz allein, und es gab niemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Obwohl ich erst 19 Jahre alt war, traf ich weiterhin diese Entscheidungen über Leben und Tod ganz selbstständig. Ich fühlte mich so einsam, so verlassen. Manchmal war mir mein Schicksal gleichgültig, aber meistens dachte ich daran, dass ich vielleicht die einzige Überlebende meiner Familie war. Nur durch mich würde ihr Andenken weiterleben. Dieser Gedanke allein gab mir die Kraft, durchzuhalten.»
Faye Schulman

Irgendwann hörte sie, dass ihr Bruder Kopel in einem benachbarten Trupp kämpfte. Sie traf ihn ein einziges Mal im Wald. Er und Moische waren vom Arbeitslager geflohen und kamen nach vielen vergeblichen Versuchen endlich bei verschiedenen Partisaneneinheiten unter. Fagel wollte, dass Kopel in ihrer Gruppe kämpft, doch sein Kommandant liess ihn nicht gehen. Er war ein guter Schütze, ein guter Soldat. Bevor er Rabbi wurde, hatte er eine militärische Ausbildung in der polnischen Armee genossen. Und irgendwie schaffte er es, während der ganzen Zeit im Wald koscher zu leben.

«Vielleicht ist es sicherer, wenn wir getrennt bleiben. Vielleicht überlebt einer von uns», sagt er zu seiner Schwester. Dann wird Alarm geschlagen. Die Nazis kommen – und die beiden laufen in verschiedene Richtungen davon.

Ein Lager jüdischer Zivilisten, 1943. Kopel (dritter von links) brachte den Familien Lebensmittel.
Ein Lager jüdischer Zivilisten, 1943. Kopel (dritter von links) brachte den Familien Lebensmittel.bild: jewishpartisans

Beim letzten Angriff auf Lenin brannten die Partisanen alles nieder. Und als Fagel dastand und ihr Elternhaus in Flammen aufgehen sah, kam die Frau des Popen auf sie zugelaufen. Ihren Mann hatte man bereits während der sowjetischen Besatzung nach Sibirien verbannt. Sie hielt ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt, das sie nun Fagel mitgeben wollte. Sie könne es nicht mehr länger bei sich behalten – es sei nicht sicher.

Einen Monat später, im Dezember 1942, wurden alle nichtjüdischen weissrussischen Bewohner der Stadt in der Kaserne zusammengetrieben. Die Nationalsozialisten umstellten das Gebäude und schossen es in Brand. Das war das Ende Lenins.

Fortan gehörte Raika zu Fagels Einheit. Man nahm das Mädchen nur sehr widerwillig auf, Kinder konnte man keine gebrauchen. Überhaupt hatte der Kommandant nur zugestimmt, weil Fagel die volle Verantwortung für sie übernahm. Es war mehr Verpflichtung als Liebe, die Fagel mit Raika verband. Sie konnte das Mädchen nicht dem Tod überlassen.

Keiner der Partisanen mochte sich um Raika kümmern. Und als sich Fagel wegen eines Überfalls auf ein Dorf für kurze Zeit von dem Mädchen trennen musste, fand sie sie völlig verwahrlost und zitternd vor Kälte wieder. Sie war übersät von Läusen, selbst in ihren Augenbrauen sassen die Viecher.

Bald hiess es, ein Flugzeug würde kommen, um die Verletzten nach Moskau in Sicherheit zu bringen. Fagel setzte auch Raika in den Flieger, der erst Wochen später als angekündigt kam. Sie hatte den Krieg wohl überlebt. Fagel hörte nie wieder etwas von ihr.

Eine wahre Freundin fand Fagel in Jana. Sie kam aus Drogiczin, einer Stadt bei Pinsk. Die Juden dort erlitten dasselbe Schicksal wie diejenigen in Lenin. Doch bevor die Nazis die Leichengräben zuschaufeln konnten, ging der Partisanenalarm los und sie rannten davon. Jana hatte eine Schusswunde am Hals. Sie lag begraben unter Leichen, doch irgendwie schaffte sie es, sich nach oben zu wühlen. Nackt lief sie zu den nächsten Bauernhäusern. Sie hämmerte gegen die Türen, doch niemand öffnete. In ihrer Hoffnungslosigkeit ging sie zurück zu den Gräben. Sie legte sich auf die toten Körper und wollte sterben.

Sie starb nicht. Sie hörte das Stöhnen unter ihr, doch sie war zu schwach, um die Verletzten herauszuziehen. Dann rannte sie los. An einem Zaun fand sie ein paar Lumpen zum Anziehen. Sie lief in den Wald, wo Fagel sie fand und gesund pflegte.

Als sie wieder bei Kräften war, sagte sie: «Mein Leben fand ein Ende, als meine Familie ermordet wurde. Ich überlebte wie durch ein Wunder. Jeder zusätzliche Tag gehört nicht mir – er gehört meiner Familie. Ich muss sie rächen.»

Sie wurde eine hervorragende Kämpferin, furchtlos und tapfer – wie Fagel. Sie gehörten zu den zwei bis drei Prozent Frauen, die die sowjetischen Partisanenverbände verstärkten. Und sie hatten es nicht immer einfach.

Ein Offizier hatte es auf Fagel abgesehen. Immer wieder lauerte er ihr auf und dann, eines Abends, betrank er sich elendiglich und verkündete: «Diese Jüdin, sie mag die russischen Männer nicht. Sie will einen Juden. Sie mag mich nicht. Ich mach' sie kaputt.» Dann ging er mit seiner Pistole hinaus zu Fagel, die unter einem Baum schlief. Er drückte ab, aber es waren keine Kugeln im Magazin. Iwan, der Tierarzt, hatte sie dem Besoffenen vorher unbemerkt weggenommen.

Im Tode versöhnt: Jüdische und nichtjüdische Partisanen werden im selben Grab bestattet, 1943.
Im Tode versöhnt: Jüdische und nichtjüdische Partisanen werden im selben Grab bestattet, 1943.bild: jewishpartisans

Sexuelle Beziehungen zwischen Partisanen waren verboten, darauf stand der Tod. Deshalb gingen die Männer in den Dörfern auf Mädchensuche. Dieser Umstand war auch den Nationalsozialisten bekannt, weshalb sie die Mädchen durch Injektionen mit Geschlechtskrankheiten infizierten.

Im Kampf aber waren Männer und Frauen gleichwertig. Fagel genoss keinerlei besonderen Privilegien.

«Die Gleichheit in solchen Situationen, in denen es um Leben und Tod ging, nährte ein einzigartiges Einverständnis unter uns und riss die Schranken zwischen den Geschlechtern nieder.»
Faye Schulman

Meist war sie die einzige Frau unter vierzig oder fünfzig Männern.

Aber statt in den Armen eines Geliebten zu liegen, wie das junge Frauen in Friedenszeiten gemeinhin tun, umarmte Fagel ein Gewehr. In ihrem Gürtel steckte eine Handgranate. Fiel ein Partisan in die Hände der Wehrmacht, wurde er gefoltert. Als einmal das Lager von Fagels Einheit überfallen wurde, schnitten sie den Anwesenden das Fleisch in Stücken vom lebendigen Leib. Die Handgranate war dafür da, dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen.

Einmal gelang es zehn Partisanen, 50 Kollaborateure zu überlisten. Sie zogen deutsche Uniformen an, einer kam in Zivil ins Dorf, um den Dolmetscher zu mimen:

«Heil Hitler!», schreien sie den Männern zu, als sie das Polizeirevier betreten. «Heil Hitler!», antworten die Kollaborateure. Dann befiehlt ihnen der Dolmetscher auf Russisch, ihre Waffen auf den Tisch zu legen. Sie sollen sie auseinandernehmen. Das hier sei eine unangekündigte Kontrolle, um zu sehen, ob die Gewehre auch gereinigt worden seien.

Als alle Waffen auf dem Tisch liegen, schiessen die Partisanen.

Faye Schulman
Fagel mit drei anderen jüdischen Partisanen, Winter 1944.bild: jewishpartisans

Allmählich wendete sich das Blatt. Im Februar 1943 wurde die deutsche 6. Armee bei Stalingrad vernichtet. Und im Herbst waren die Partisanen bereits so stark, dass die Menschen in den umliegenden Dörfern begannen, die Seite zu wechseln. Erstmals traute man sich zu glauben, man könne die Deutschen besiegen.

Eines Tages spürt Fagels Brigade elf Spione auf. Und weil sie eine gute Kämpferin ist, wird ihr gemeinsam mit ein paar anderen die Ehre zuteil, sie zu töten. Am nächsten Morgen um sechs Uhr. Bei den hohen Bäumen.

«Ich konnte nicht kaltblütig töten. Im Kampf zu stehen, als Soldat zu kämpfen, das war das eine. Aber was hier geschehen sollte, war für mich etwas anderes. Einige Partisanen empfanden das Töten als Vergnügen, zumindest aber als ihre selbstverständliche Aufgabe. Für mich galt das nicht; ich war kein Killertyp. Ich war nicht imstande, Grausamkeit und tierische Brutalität mit ihresgleichen zu vergelten. Eher lag mir die Arbeit als Krankenschwester, die Pflege der Verwundeten.»
Faye Schulman

Fagel kommt absichtlich 15 Minuten zu spät. Auf dem Weg hört sie schon die Schreie der Spione, auf die bereits eingestochen wurde. Sie bewegen sich noch. Als die Partisanen Fagel bemerken, entschuldigen sie sich bei ihr dafür, dass sie ihre Aufgabe schon selbst übernommen haben. Sie konnten es einfach nicht erwarten.

An jenem Tag versteckt sich Fagel in einem Unterstand und weint. Sie sah nicht die elf toten Spione da liegen, sie sah ihre Mutter im Todeskampf, ihren Vater in einer Blutlache, ihre Schwestern und Brüder, von Kugeln durchbohrt. Sie krümmt sich vor Angst. Irgendwann kommt Iwan, er tröstet sie und verspricht, niemandem zu erzählen, dass sie geweint habe.

«Ich schämte mich meiner Tränen. Das gehörte sich nicht für eine Partisanin.»
Faye Schulman

Der Winter 1944 war gnadenlos. Die Deutschen starteten einen Grossangriff, sie machten 28 Dörfer platt und töteten dabei alle; Zivilisten, Bauern, Landarbeiter. Die meisten davon waren Weissrussen. Die Temperatur fiel bis vierzig Grad unter Null. Fagel verarztete zwei Wochen lang Männer einer anderen Einheit, denen die Hände, Beine, Zehen oder die Nasen abfroren, weil sie gezwungen waren, sich drei Tage lang auf den eisigen Boden zu legen, um nicht entdeckt zu werden. Es stank entsetzlich, ganz anders als frisches Blut, das aus einer Schusswunde hervorbricht.

Faye Schulman
Kameraden aus der Brigade Molotov: Der Brigadekommandeur und der Kommissar der Brigade, neben Fagel im Leopardenmantel sitzt Rosa, eine weitere jüdische Partisanin, 1944.bild: jewispartisans

Als der Schnee endlich schmolz, waren die Deutschen aus der Ukraine vertrieben. Der Boden taute auf und die Erde begann sich mit einem grünen Teppich zu überziehen. Es roch nach Frühling und der Krieg war bald zu Ende. Fagel sass mit ihren Kameraden um das Lagerfeuer. Einer stimmte ein Partisanenlied an: «Oh, wie schön wird es sein, wenn der Krieg vorbei ist!»

Fagel sang mit, aber es war nicht ihr Lied. Ihr Zuhause war dem Erdboden gleichgemacht worden, die Bewohner tot.

Am 14. Juni 1944 befreit die Brigade Molotov die ehemals polnische Stadt Pinsk. Für ihren heldenhaften Kampf als Partisanin wird Fagel eine Medaille verliehen. Dann löst sich ihre Einheit auf. Als sie ihr Gewehr, ihre Pistole und ihre Handgranate abgibt, fühlt es sich für Fagel so an, als würde sie ihre ganze Identität verlieren. Was sollte ihr die Freiheit nützen? Zwei Jahre lang hatte sie in der Gegenwart gelebt, hatte gekämpft, um nicht an die Vergangenheit denken zu müssen. Jetzt stand sie da, vor einer leeren Zukunft.

«Alle meine nichtjüdischen Kameraden hatten ein Zuhause, eine Familie, ein Land, in das sie zurückkehren konnten. Ich hatte nichts: keine Eltern, keine Familie, kein Zuhause, keine Heimatstadt, kein Vaterland.»
Faye Schulman

Die meisten jüdischen Partisanen traten in die Sowjetarmee ein, um weiter gegen die Deutschen zu kämpfen. Und hätte Fagel an jenem Tag nicht diesen freundlichen Sowjetoffizier getroffen, hätte sie dasselbe getan. «Du hast genug gekämpft», sagte er ihr.

Und sie beschloss, ins Leben zurückzukehren, das in Pinsk bald wieder seinen gewohnten Gang ging. Nur fehlten die 45'000 Juden, die vor dem Krieg hier gelebt hatten. In ihren Häusern wohnten jetzt andere, aber auf den Fenstersimsen standen noch immer die Sabbatleuchter. Und manche der jetzigen Bewohner besassen die Unverfrorenheit, die liegengebliebenen Kleider der früheren Besitzer anzuziehen.

Bald hört Fagel, dass es in Minsk einen Fotografen gebe, der früher Partisan gewesen sei. Es muss sich um ihren Bruder Moische handeln, von dem sie das Handwerk einst gelernt hatte. Und tatsächlich, sie findet ihn dort, in einem grossen Gebäude. Er steht an einem Tisch, über ein paar Aufnahmen gebeugt. Sie fallen sich in die Arme. Seit dem Frühjahr 1942 haben sich die beiden nicht mehr gesehen. Einen Überlebenden aus Lenin gebe es, erzählt er ihr. Ein junger Mann, der bei ihm wohne. Er habe eine Partisanen-Brigade kommandiert – Moische Schulman.

Fagel kannte ihn. Bereits vor dem Krieg war er ihr aufgefallen. Er kam 1939 nach Lenin, er war damals aus Warschau geflüchtet. Sie sahen sich viel an, redeten aber wenig. Dann schickten die Deutschen ihn mit ihren Brüdern ins Zwangsarbeitslager. Sie traf ihn noch einmal während ihrer Partisanenzeit, sie tranken sogar einen Wodka zusammen. Aber es blieb wenig Zeit.

Plötzlich geht die Tür auf. Moische erkennt sie sofort. Einen Augenblick lang bleibt er in der Tür stehen, vor Freude überwältigt, dann kommt er auf Fagel zu.

«Er sagte nicht viel, aber ich wusste, dass wir das gleiche empfanden. Wir konnten es nicht in Worte fassen, aber die Liebe war da.»
Faye Schulman

Beide sind von dem starken Verlangen getrieben, das Zerstörte zu heilen und einen neuen Anfang zu machen mit denen, die dem Tod entronnen waren. Am 12. Dezember 1944 heiraten sie im Haus von Fagels Bruder.

Fagel und Moische kurz nach ihrer Hochzeit, Ende 1944. Sie war 21, er zehn Jahre älter.
Fagel und Moische kurz nach ihrer Hochzeit, Ende 1944. Sie war 21, er zehn Jahre älter. bild: jewishpartisans

Danach kehrten sie nach Pinsk zurück. Das frisch vermählte Paar verdiente gut und lebte in einem grossen Haus, in das sie an den Abenden die acht jüdischen Partisanen einluden, die den Krieg überlebt hatten. Sie alle hatten grausame Verluste erlitten und fanden sich nun zusammen, zu jener winzigen neuen Gemeinschaft.

Im Januar 1945 traf eine Postkarte von Kopel ein. Sie trug nur Fagels Namen, keinerlei Adresse. Ihr Bruder schrieb von einem sowjetischen Lazarett aus, 1400 Kilometer östlich von Moskau: «Die Nazis hatten nicht genug Sprengstoff, mich umzubringen, Sie haben es nur geschafft, mir eine Zehe abzureissen.»

Am 30. April 1945 rückten die sowjetischen Streitkräfte in Berlin ein. Neun Tage später wurden alle Kampfhandlungen in Europa offiziell eingestellt. Und Fagel war schwanger. Sie besass nun vier Pelzmäntel und ass die besten Speisen, aber es waren nicht mehr viele da, mit denen sie sie hätte teilen können. Fagel und Moische fühlten sich, als würden sie auf einem Friedhof leben.

Alle vereint: Kopel, Moische, Fagel und ihr Bruder Moische.
Alle vereint: Kopel, Moische, Fagel und ihr Bruder Moische.bild: faye schulman, die schreie meines volkes in mir

Sie zogen weiter. Fagel nahm bloss ihren Leopardenfellmantel und ihre Kamera mit. Erst gingen sie nach Lodz, wo sich die Mehrheit der jüdischen Überlebenden angesiedelt hatte. Sie fanden dort keinen einzigen von Moisches Verwandten. Seine 200 Familienangehörigen waren alle in den Gaskammern der Vernichtungslager umgekommen.

«Nun wurde unsere Überzeugung noch stärker, dass es für uns nur ein Ziel geben konnte: Palästina. Dorthin wollten wir gehen, zu unserem Volk, in unser Land.»
Faye Schulman

Doch damals stand Israel unter britischer Verwaltung – und diese liess keine jüdischen Überlebenden einreisen. Faye und Moische traten der Bricha bei, einer Organisation, die versuchte, jüdische Flüchtlinge nach Palästina einzuschmuggeln.

Besonders schwierig gestaltete sich die Ausreise aus den Ländern, die zum kommunistischen Block gehörten. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den anderen Alliierten verschlechterten sich zusehends. Alle Flüchtlinge, die auswandern wollten, mussten erst das von Amerikanern befreite Gebiet erreichen, um ein Visum zu erhalten. Fagel und Moische mussten wie die anderen Juden, die legal versuchten, in einen anderen Teil der Welt zu gelangen, nach Westdeutschland. Zu welch bitterer Ironie die Geschichte damals aufgelegt war.

Hier standen die von den Vereinten Nationen unterhaltenen Lager für «Displaced Persons». Die Reise war schwer. Dauernd standen Grenzkontrollen und Leibesvisitationen an, bei denen Fagel und Moische alles weggenommen wurde. Die sowjetischen Dokumente zählten ausserhalb des kommunistischen Blocks nicht. Die Lager in Prag waren voll, in Linz verbrachten sie eine kalte Nacht in einem ausgebombten ehemaligen Grandhotel ohne Dach. Im Landsberger DP-Lager blieben sie zwei Jahre lang. Hier kam am 27. Januar 1946 auch Fagels Tochter Susanna zur Welt.

Die Briten liessen noch immer keine Juden nach Israel. Und mit einem neugeborenen Kind war die Reise zu gefährlich. Moische und Fagel beantragten die Einwanderung für verschiedene Länder – ganz gleich wohin, nur raus aus Deutschland.

Im Juni 1948 kam die kleine Familie in Kanada an. Hier wurde Fagel zu Faye. Hier gebar sie ihren Sohn Sidney und hier schrieb sie ihre Erinnerungen auf. Auf dass der Kampf der 20'000 jüdischen Partisanen nie vergessen werde.

Faye Schulman starb 2015 in Toronto.

Faye Schulman
Faye Schulman mit ihren Tapferkeitsauszeichnungen, 1999. Das Bild hat ihr Bruder Moische geschossen. Sie wollte unbedingt eines mit ihrem Fotoapparat haben: «So viele Dinge sind passiert und diese Kamera hat alles gesehen.» bild: jewishpartisans
Das für den Artikel verwendete Buch
Faye Schulman: Die Schreie meines Volkes in mir. Wie ich als jüdische Partisanin den Holocaust überlebte.

Ihre Fotografien sind im Holocaust-Museum in Washington und in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ausgestellt.

Das wurde aus der Führungsriege des «Dritten Reiches»

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Das wurde aus der Führungsriege des «Dritten Reiches»
Vermutlich eine der letzten Aufnahmen des «Führers»: Adolf Hitler besichtigt im April 1945 die zerstörte Reichskanzlei. Am 29. April heiratete der Diktator im Bunker unter der Kanzlei seine Freundin Eva Braun.
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21 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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kev
15.07.2019 19:55registriert August 2018
Ich habe weiss Gott viele bewegende Geschichten über den Holocaust gelesen bzw. Dokumentationen gesehen aber selten hat mich eine so berührt wie dieser Bericht. Eine tolle Geschichte und grandios geschrieben!
1934
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Cucumber
15.07.2019 19:56registriert Februar 2019
Danke Frau Rothenfluh für diese Geschichte. Ich weine sonst nie... Sitze gerade im Postauto und mache genau das.
Nach solchen Geschichten wird mir jedesmal aufs schmerzlichste Bewusst wie wichtig Eretz Israel für die Juden ist und warum es unser aller Pflicht ist diese Staat mit allem was wir haben zu verteidigen.
Weil: NIE wieder!
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Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
15.07.2019 19:46registriert Juni 2016
Danke für den Bericht.

Auch wenn mir ab der Berichteten Grausamkeit der Nazis schlecht wird
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