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Antibiotika in Halsweh-Lutschtabletten: Unnötig und gefährlich

Halsweh-Tabletten wie Mebucaine, etc.
Halsweh-Tabletten wie Mebucaine, etc.
Bild: KEYSTONE

Auch wenn sie ganz harmlos daherkommen: Viele Halsweh-Lutschtabletten enthalten Antibiotika – unnötigerweise

Immer mehr Leute sprechen nicht mehr auf Antibiotika an, Bakterien werden resistent. Bei einfachen Krankheiten wie zum Beispiel Halsschmerzen machen die Medikamente sowieso wenig Sinn.
21.10.2015, 07:1821.10.2015, 14:40
andrea söldi
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Kaum werden die Tage kürzer und der Herbstwind weht, haben Erkältungen und Grippe wieder Hochsaison. Wenn die Nase trieft und der Hals brennt, sucht man in der Apotheke nach einem Mittel, das die Beschwerden möglichst schnell lindert. Und verlässt das Geschäft kurz darauf mit Lutschtabletten.

«Die Beimischung von Antibiotika in Halsweh-Lutschtabletten ist bestenfalls nutzlos, wenn nicht sogar schädlich.»
Michael Schneider, Hausarzt

Doch was viele nicht wissen: Zahlreiche handelsübliche, rezeptfreie Medikamente enthalten neben schmerzlindernden Substanzen auch Antibiotika. Dies, obwohl Halsschmerzen zu 80 Prozent von Viren verursacht werden, gegen die Antibiotika nichts ausrichten können.

«Die Beimischung ist bestenfalls nutzlos, wenn nicht sogar schädlich», erklärt Michael Schneider. Der Berner Hausarzt engagiert sich gemeinsam mit anderen Ärzten und Apothekern für einen sachgemässen Umgang mit den Medikamenten. Die vor zwei Jahren ins Leben gerufene Gruppe NEXT (Neue Expertenstrategie zur Therapie von Halsschmerzen) wird von der Firma Reckit Benckiser AG finanziell unterstützt, die selber ein antibiotikafreies Halsschmerzmittel herstellt.

Antibiotika verlieren ihre Wirksamkeit

Antibiotika sind äusserst wirksame Mittel. Seit der Anwendung von Penicillin ab dem zweiten Weltkrieg sterben weit weniger Menschen an Infektionskrankheiten. Doch wegen der verbreiteten Einnahme verlieren immer mehr Substanzen ihre Wirkung. Denn die Bakterien sind äusserst lernfähig. Durch ihre rasante Fortpflanzung sind sie schnell in der Lage, eine Resistenz zu entwickeln und können diese auch an andere Stämme weitergeben.

Immer mehr Menschen sprechen nicht mehr auf die gängigen Mittel an. Ärzte müssen dann auf sogenannte Reserve-Antibiotika zurückgreifen. Doch manche Patienten sind sogar gegen diese bereits resistent.

Regionale Unterschiede: Appenzeller nehmen weniger Antibiotika als Genfer
In vielen Ländern, zum Beispiel in Indien, sind Antibiotika frei zugänglich und werden zum Teil missbräuchlich eingenommen. Auch auf dem Schwarzmarkt und im Internet sind die Mittel erhältlich. Dennoch sind markante Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern zu erkennen. Wo mit weniger und eher mit ursprünglichen Mitteln wie Penicillin gearbeitet wird, treten Resistenzen deutlich seltener auf.

Gemäss Untersuchungen aus den 90er-Jahren greifen etwa französische Ärzte fast dreimal so häufig zu Antibiotika als deutsche. Auch die skandinavischen Länder sind zurückhaltender bei der Verabreichung als etwa südeuropäische Staaten. Die Schweiz steht im europäischen Ländervergleich relativ gut da. An einem durchschnittlichen Tag schlucken hierzulande lediglich neun von 1000 Einwohnern ein Antibiotikum, während es in Frankreich über 30 sind.

Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind aber beträchtlich: Der Kanton Genf nimmt mit fast 16 den Spitzenplatz ein, gefolgt von anderen Westschweizer Kantonen und dem Tessin. Aargauer dagegen schlucken nur halb so viele Antibiotika wie Genfer. Am sparsamsten sind die Appenzeller. (as)

Das in Halsweh-Lutschtabletten enthaltene Antibiotikum Tyrothricin spiele dabei aber kaum eine Rolle, beteuern die Pharmaunternehmen. «Es sind keine Resistenzen oder Kreuzresistenzen mit anderen Bakterien bekannt», teilt etwa die Firma Novartis Consumer Health mit, welche die Kassenschlager der Produktelinie Mebucaine herstellt. Dazu gehören auch Mebu-Lemon, Mebu-Cherry sowie Lemocin.

Antibiotika für den geschwächten Körper

Die Firmen sind zudem der Meinung, die Mittel seien wichtig, um die eindringenden Bakterien zu dezimieren. Bei einer Vireninfektion geschehe es oft, dass die anderen Keime die Schwäche des Patienten ausnutzen und sich ebenfalls stark vermehren, heisst es vonseiten der Firma Melisana. Ihr Produkt Sangerol wirke lokal, ohne dass Tyrothricin vom Körper aufgenommen werde.

«In Lutschtabletten-Form sind Antiobiotika nicht wirksam.»
Yves Platel, Apotheker

Eine andere Auffassung vertritt Jacques Gubler, Chefarzt der medizinischen Poliklinik am Kantonsspital Winterthur: Die in Lutschtabletten enthaltenen Antibiotika könnten die Selektion von resistenten Bakterien begünstigen, betont der Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie. Zudem werde die normale Bakterienflora im Hals-Rachenraum sowie im Magen-Darmtrakt gestört.

«Damit wird der wirksamste Schutz gegen krankmachende Bakterien und Pilze geschädigt und die Empfänglichkeit für weitere Infektionen kann steigen», stellt der von der Gruppe NEXT unabhängige Arzt klar. Bei oberflächlichen Halsentzündungen seien Antibiotika unnötig. Sie seien höchstens bei komplizierten Infektionen gerechtfertigt, müssten dann aber in anderer Form verabreicht werden.

Geschickte Platzierung, grosser Werbeaufwand

In den meisten Apotheken sind die grell-gelben Packungen gleich hinter der Theke gut sichtbar aufgereiht. Die Hersteller-Konzerne bezahlen für die prominente Platzierung. Mit der grossen Bekanntheit der Lutschtabletten und der omnipräsenten Werbung ist dies für beide Seiten ein gutes Geschäft.

Die grell-gelben Packungen sind in den Apotheken meistens gleich hinter der Theke gut sichtbar aufgestellt.
Die grell-gelben Packungen sind in den Apotheken meistens gleich hinter der Theke gut sichtbar aufgestellt.
Bild: KEYSTONE

Zurückhaltender geht aber zum Beispiel die Bahnhof Apotheke im Zürcher Hauptbahnhof mit den Halsweh-Medikamenten um. Natürlich würden sie auch hier häufig von eiligen Kunden verlangt, sagt Yves Platel, der sich ebenfalls in der Gruppe NEXT engagiert. «Doch wenn immer möglich raten wir zu antibiotikafreien Lutschtabletten und klären sie über den Sachverhalt auf», sagt der Apotheker.

So kann man Halsweh ohne Antibiotika kurieren
Wer gleich bei den ersten Anzeichen reagiert, hat die besten Chancen im Kampf gegen Halsschmerzen und andere Erkältungssymptome. Lutschtabletten auf Kräuterbasis und warme Tees (z.B. Salbei, Kamille, Eibischwurzeln) haben eine leicht desinfizierende Wirkung. Das Gurgeln mit warmem Tee oder Salzwasser regt zudem die Blutzirkulation an. Bei starken Schmerzen bieten Apotheken entzündungshemmende und schmerzlindernde Mittel an. Da bei der Mundatmung der Hals zusätzlich gereizt wird, sollte man eine verstopfte Nase mit Sprays frei halten. Klingen die Schmerzen nach zwei Tagen nicht ab, ist ein Besuch beim Arzt angesagt. (as)

Hat jemand Fieber und besteht Verdacht auf eine bakterielle Infektion, schickt man die Person zum Arzt. In diesem Fall können Antibiotika angezeigt sein, doch in anderer Dosierung, weiss Platel. «In Lutschtabletten-Form sind sie nicht wirksam.»

Viele Ärzte sind zu freigiebig

Antibiotika beeinflussen die Darmflora nachhaltig. Neuere Tests haben nachgewiesen, dass die Zusammensetzung der zahlreichen verschiedenen Bakterien, die eine Funktion bei der Verdauung einnehmen, bis zu vier Jahre nach der Behandlung Veränderungen aufweist. Obwohl daraus keine direkten Beschwerden entstehen müssen, ist nicht auszuschliessen, dass dieses Phänomen langfristig Auswirkungen hat.

Greifst du zu Halsweh-Lutschtabletten?

Auch der Bundesrat ist besorgt. Vor zwei Jahren hat er ein nationales Programm lanciert. Die Bundesämter für Gesundheit, Veterinärwesen und Landwirtschaft sollen gemeinsam eine Strategie ausarbeiten, um die Resistenzen einzudämmen. Denn die Mittel werden auch in der intensiven Tierhaltung und im Pflanzenschutz verwendet. Bis erste Massnahmen umgesetzt werden, kann es jedoch noch dauern.

Derweil ist die Gruppe NEXT bereits aktiv. Die beteiligten Experten sind international vernetzt und bieten Weiterbildungen für Mitarbeitende von Apotheken an, um sie für das Halsschmerz-Thema zu sensibilisieren. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass drei Viertel der Bevölkerung nichts über die Antibiotika in gängigen Halsweh-Lutschtabletten weiss. Dies, obwohl viele gegenüber Antibiotika kritisch eingestellt sind.

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