Diese Woche wieder mal im Kino gewesen. Auf dem Programm stand «They Shall Not Grow Old» von Peter Jackson. Der «Lord Of The Rings»-Regisseur zeigt Filmdokumente aus dem Ersten Weltkrieg, wie man sie noch nie gesehen hat: koloriert und in 3D konvertiert, mit Tonspur und in «realer» Geschwindigkeit. Die NZZ spricht von einem «Lazarus-Effekt»: Die Toten werden lebendig.
Das Ergebnis begeistert und verstört gleichermassen. Jackson bringt uns einen Krieg nahe, der vor mehr als 100 Jahren zu Ende ging. Verstärkt wird die Unmittelbarkeit durch Tonaufnahmen von Dutzenden Veteranen aus dem BBC-Archiv. Man erlebt das ganze Elend eines Krieges, in dem unzählige Soldaten tatsächlich «nicht alt werden sollten», wie der Titel des Films besagt.
Allein die Briten verloren zwischen 1914 und 1918 in Belgien und Nordfrankreich rund eine Million junge Männer. Man spricht auf der Insel deshalb bis heute vom «Great War», dem Grossen Krieg. Peter Jacksons Grossvater war auch dabei. Er überlebte, ihm ist der Film gewidmet.
Auf dem Heimweg gingen mir zahlreiche Gedanken durch den Kopf. Einer drängte sich in den Vordergrund: Wissen wir eigentlich noch, was Krieg bedeutet? In der Schweiz wurden wir von beiden Weltkriegen verschont. Die letzten Schlachten auf unserem Territorium fanden im (relativ unblutigen) Sonderbundskrieg 1847 statt. Also vor einer Ewigkeit.
Grosse Teile des übrigen Europas hingegen wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwüstet. Doch auch in diesen Ländern beginnt die Erinnerung zu verblassen. Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg. Die damals aktive Generation ist weitgehend weggestorben. Bei den Feiern zum 75. Jahrestag des D-Day im Juni waren nur noch wenige Veteranen anwesend.
Sicher, es hat seither auch in Europa wieder Kriege gegeben. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gingen die Völker im ehemaligen Jugoslawien aufeinander los. Heute wird in der Ukraine geschossen. Der Terrorismus hat in verschiedensten Ausprägungen immer wieder blutige Spuren hinterlassen. Aber insgesamt haben wir uns an ein Leben in Frieden und Wohlstand gewöhnt.
Der ehemalige Staatssekretär und Rotkreuz-Präsident Jakob Kellenberger sprach kürzlich in Bern von einer zunehmenden «Friedensferne». Ein seltsamer Ausdruck, doch Kellenberger meint damit, dass wir zunehmend vergessen, was in Europa auf dem Spiel steht. Und wie fremd uns der während Jahrhunderten allgegenwärtige Krieg geworden ist.
Krieg ist kein Spiel. Krieg bedeutet Not und Elend, Tod und Hunger, Verstümmelung und Vergewaltigung. Es ist das Verdienst von Peter Jacksons Film, diese Realität in Erinnerung zu rufen, wenn er in Bild und Ton das Vegetieren der Soldaten in sumpfigen und mit Ratten verseuchten Schützengräben schildert. Und das Gemetzel auf dem Schlachtfeld.
Es ist besonders wichtig in einer Zeit, in der rechte Parteien auf dem Vormarsch sind und die Wiedergeburt des Nationalstaats zelebrieren. Sie idealisieren ein «Europa der Vaterländer», die Seite an Seite in Eintracht leben. Man fragt sich: Wissen die, was sie tun? Oder wie die Chinesen sagen: Nimm dich in acht vor dem, was du dir wünscht. Es könnte in Erfüllung gehen.
Wie soll ein «Europa der Vaterländer» mit dem Migrationsdruck aus dem Süden umgehen? Italien würde mit dem Problem vermutlich völlig allein gelassen. Was würde ein Matteo Salvini dann tun? Die Flüchtlingsboote im Mittelmeer versenken? Oder die Migranten Richtung Norden ziehen lassen? Wie lange würde es in diesem Fall dauern, bis die Armeen an den Grenzen aufmarschieren?
Es ist brandgefährlich, wenn wir einfach vergessen, was auf dem Spiel steht. Von «historischer Amnesie» spricht der Autor Peter Beinart in einem Beitrag für das US-Magazin «The Atlantic». Darin widmet er sich einer anderen Bedrohung, die zunehmend verblasst: Krankheiten.
Sie sorgten für weit mehr Opfer in der Menschheitsgeschichte als Kriege. Eine Erkältung oder eine Blutvergiftung konnte ein Todesurteil sein. Wirksame Medikamente entstanden erst mit dem medizinischen Fortschritt der letzten 200 Jahre. Er hat den Krankheiten ihren Schrecken genommen. Die meisten lassen sich heute behandeln oder unter Kontrolle halten.
Das gilt auch für neu aufgetauchte. Die Angst vor Aids ist geschwunden, seit HIV-Positive dank Medikamenten ein weitgehend normales Leben führen können. Ebola? Weit weg in Afrika. Auch beim gefürchteten Krebs ist die Heilungschance gross, wenn er frühzeitig diagnostiziert wird.
Damit nimmt die Sorglosigkeit zu. Und vermeintlich besiegte Krankheiten kehren zurück, etwa die Masern. Ihnen widmet Peter Beinart seinen Artikel. Immer mehr Eltern weigern sich aufgrund diffuser Ängste, ihre Kinder impfen zu lassen. Ein Grund dafür sei, dass das heutige Amerika «an einem gefährlichen Mangel an historischer Erinnerung» leide, meint Beinart.
Für Europa und die Schweiz gilt dies genauso. Wir wissen nicht mehr, wie schlimm Krankheiten sein können. Und aufgrund eines wissenschaftlich widerlegten Autismus-Risikos, wie segensreich Impfungen sind. Lieber lassen gewisse Eltern ihre Kinder die Masern «durchseuchen» und gefährden damit das Leben anderer ungeimpfter Kinder, vor allem von Säuglingen.
Unser frivoler Umgang mit Krankheiten zeigt sich auch anhand der Antibiotika. Der Film «They Shall Not Grow Old» ruft in Erinnerung, dass viele Soldaten in den Kriegen nicht durch direkte Gewalteinwirkung starben, sondern durch Infektionen als Folge einer Verwundung. Zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entdeckte der Mediziner Alexander Fleming per Zufall das Penicillin.
Es war die Geburtsstunde der modernen Antibiotika, die hunderten Millionen Menschen das Leben gerettet haben. Heute ist diese beispiellose Errungenschaft durch ihre sorglose Verwendung unter anderem in der Landwirtschaft bedroht. Immer häufiger tauchen hochresistente «Superkeime» auf, die von der Ärzteschaft unter fast schon kriegsähnlichen Umständen bekämpft werden müssen.
Die grossen Pharmakonzerne sind dabei keine Hilfe. Sie investieren kaum in die Erforschung neuer Antibiotika, sondern lieber in hochpreisige Medikamente gegen seltene Krankheiten. Profit kommt vor dem Allgemeinwohl. Möglich ist diese Entwicklung nur, weil wir vergessen haben, wie gefährlich selbst harmlose Krankheiten sein können, wenn wir kein Mittel gegen sie haben.
Die Menschheit befindet sich an einem heiklen Punkt ihrer Geschichte. Die Herausforderungen durch Klimawandel und Digitalisierung sind enorm, sie müssen bewältigt werden. Darüber darf aber die Bedrohung durch Kriege und Krankheiten nicht in Vergessenheit geraten. Anderswo auf der Welt (Jemen, Kongo) sind sie nach wie vor sehr präsent.
Darum sind Filme wie «They Shall Not Grow Old» wichtig, auch wenn Puristen den Umgang mit dem historischen Material als fragwürdig erachten. Er ist immer noch besser als die «historische Amnesie», die uns die Gefahren vermeintlich überwundener Bedrohungen vergessen lässt.
Das ist mit Abstand der relevanteste Artikel, den ich in den zwei Jahren, in denen ich bei watson bin, gelesen habe.
Das ist sogar einer der relevantesten Artikel, den ich jemals gelesen habe. Meiner meinung nach eines der grössten Probleme unserer Zeit. Wir meinen, es ist selbstverständlich, dass es hier keinen Krieg gibt. Das ist überhaupt nicht so.
Deshalb, und nur deshalb bin ich für die EU. Ziemlich egal, was diese en Detail macht. Sie ist der EINZIGE Garant dafür, dass das nicht wieder geschieht und unsere Kinder diese Qualen wieder erleben müssen!