Aus dem Eis ragte ein menschlicher Oberkörper, vornübergebeugt, das mumifizierte Gesicht zu Boden geneigt: Der grausige Fund, den das deutsche Ehepaar Erika und Helmut Simon am 19. September 1991 beim Wandern auf dem Tisenjoch machten, sollte sich rasch als archäologische Sensation erweisen.
Beim Mann, der hier an der österreichisch-italienischen Grenze zu Tode gekommen war, handelte es sich nicht um einen verunglückten Bergsteiger, sondern vielmehr um einen Jäger aus der späten Jungsteinzeit, und sein Tod vor rund 5300 Jahren, so ergaben aufwändige Untersuchungen, war kein Unfall, sondern Mord gewesen: «Ötzi», wie der Steinzeitjäger bald genannt wurde, war von einem Pfeil in den Rücken getroffen worden, dessen Feuersteinspitze ein zwei Zentimeter grosses Loch ins linke Schulterblatt geschlagen hatte, wo sie steckenblieb und das Opfer verbluten liess.
Der einsame Tod des Steinzeitjägers in der kleinen Senke zwischen dem Schnals- und dem Ötztal ermöglichte der Wissenschaft ungeahnt detaillierte Einblicke in eine längst vergangene Zeit. Ötzis aufwändig genähte Kleidung, sein Feuersteindolch, das kostbare Kupferbeil, der über 1,8 Meter lange Eibenbogen, der Köcher aus Rehleder und die darin liegenden 14 Pfeile – all dies liess den kupfersteinzeitlichen Jagdalltag auf einmal in einem völlig neuen Licht erscheinen.
Ein Detail lässt die Archäologie bis heute staunen: Zwei von Ötzis Pfeilen waren schussbereit; mit dreifacher, radial angebrachter Befiederung und messerscharfen Feuersteinspitzen versehen, die sorgfältig mit Birkenpech auf den Schaft geklebt worden waren.
Birkenpech, auch Birkenteer genannt, ist eine schwarze, stark riechende, zähflüssige Masse. Schon lange ist bekannt, dass die Substanz bereits vor 45'000 Jahren als höchst potenter Allzweckkleber genutzt wurde; andere Quellen gehen davon aus, dass sogar schon die Neandertaler vor über 200'000 Jahren Birkenpech nutzten. Damit wurden Steinklingen an Holzgriffen befestigt oder zerbrochene Keramik zusammengeklebt. Selbst zum Abdichten von Kanus und Booten wurde Birkenpech verwendet.
Der Stoff wurde an vielen Lager- und Siedlungsplätzen der Mittel- und Jungsteinzeit gefunden – auch in der Schweiz. Bei der Ausgrabung einer 5700 Jahre alten Siedlung in Oberrisch am Zugersee etwa wurden innerhalb des Grundrisses eines steinzeitlichen Hauses 18 grössere Birkenpechstücke gefunden, die heute im Museum für Urgeschichte in Zug ausgestellt sind.
Doch trotz seiner universellen Verwendung gab dieses Birkenpech der Archäologie lange Zeit Rätsel auf. Anfänglich wussten die Forscher nicht einmal, worum es sich bei den merkwürdigen prähistorischen Klumpen handelte – «Urnen- oder Gräberharz» wurden sie genannt, doch besteht Birkenpech weder aus dem Harz noch dem Saft der Birke. Bis vor kurzem wurde angenommen, dass es durch das Verschwelen der äusseren, lederartigen weissen Rindenschicht bei Temperaturen von ziemlich genau 350 Grad Celsius und unter weitgehendem Luftabschluss gewonnen wurde, ein Prozess, der in der Chemie «destruktive Trockendestillation» oder auch «Pyrolyse» genannt wird.
Dieses durchaus komplexe Verfahren setzt das Vorhandensein einer luftdicht abgeschlossenen Brennkammer aus Keramik sowie eine Kontrolle der Brenntemperatur voraus, was darauf schliessen liesse, dass die Handwerker der Jungsteinzeit bereits über erstaunliche technologische Fähigkeiten verfügten.
2019 indessen entdeckte ein Forscherteam der Universität Tübingen, dass sich Birkenpech auch wesentlich einfacher herstellen lässt. Es reicht nämlich aus, Birkenrinde in einer Feuerstelle zu verbrennen, in der Steine mit glatter Oberfläche senkrecht aufgestellt werden. Bereits bei normalen Brenntemperaturen und auch ohne luftdichte Versiegelung lagert sich nach nur drei Stunden das Birkenpech auf der Steinoberfläche ab und lässt sich für eine spätere Verwendung abkratzen.
Heute gehen Archäologen davon aus, dass die Entdeckung des Birkenpechs zufällig geschah. Seine Eigenschaften aber waren äusserst verblüffend. Um sie weich zu machen, wurden die schwarzen Klumpen erwärmt und anschliessend verstrichen; bei Werkzeugen, Steinmessern und Pfeilspitzen wurde die Klebestelle meist zusätzlich mit Pflanzenschnüren umwickelt. Einmal erkaltet, haftete das Pech fast genauso stark wie ein moderner Zweikomponentenkleber.
Diese Eigenschaften beruhen auf dem grossen Anteil von Harzsäuren und leicht flüchtigen aromatischen Verbindungen. Bei der Herstellung findet zwischen den in der Substanz enthaltenen Molekülen eine Polymerisationsreaktion statt; die kettenartigen Verbindungen machen aus den zuvor niedermolekularen Verbindungen ein Polymer.
Birkenpech ist damit der allererste Kunststoff der Menschheit, und es war lange Zeit in Gebrauch: Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, beschreibt seine Herstellung ebenso wie der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere in seiner «Historia naturalis». Selbst im Mittelalter noch wurden Gerätschaften und Werkzeuge mit Birkenpech verklebt; erst die Kunststoffrevolution im 19. Jahrhundert machte dem Gebrauch des Steinzeitklebers ein Ende.
Ein letztes Rätsel hält das Birkenpech aber bis heute bereit. Auf einem in Dänemark gefundenen Stück wurden menschliche Zahnabdrücke gefunden, die noch verwertbare Mengen an DNA enthielten. Der Pechklumpen war, so fanden die Forscher heraus, vor 5700 Jahren von einer Frau gekaut worden, die mit Jägern und Sammlern vom europäischen Festland verwandt war und dunkle Haut, dunkelbraunes Haar und blaue Augen hatte.
Ob sie das Birkenpech durch Kauen weich machen wollte, ob sie es zur Zahnpflege nutzte oder ob der erste Superkleber auch der erste Kaugummi der Menschheit war, das kann die Wissenschaft bis heute nicht schlüssig beantworten.
Mein Bruder und ich, damals etwa 8 Jahre alt, haben in einer Doku über die Steinzeit vom Birkenpech erfahren. Wir haben die weissen Stückchen massenhaft gesammelt und verbrannt und damit zeug zusammengeklebt für den Bau unserer Waldhütten. Das war eine gute Zeit 🙂
Noch eine Anmerkung zur Wicklung mit Schnur oder Faden, bei der Pfeilspitze. Die dient nicht nur der Befestigung, sondern verhindert auch, dass sich der Schaft spaltet.
Die Leute damals, waren technisch weiter als wir immer denken.