Didi war glücklich. Sie hatte soeben geheiratet und sehnte sich nach einem Kind. Das Leben war wirklich gerade fair zu der 34-Jährigen. Auch ihre beste Freundin Sara hatte fast zeitgleich ihrem langjährigen Freund das Ja-Wort gegeben. Das Vierer-Gespann verstand sich gut, so fuhren sie gemeinsam in die Ferien. Da wusste noch niemand, dass dieser Urlaub alles verändern wird. Dass danach nichts mehr so sein wird wie vorher.
An einem Abend im Urlaub waren die beiden Frauen allein. Sie lachten, quatschten, alles war wie immer. Doch plötzlich gab es diesen Augenblick. Beide sahen sich in die Augen – und küssten sich. Die zwei, seit Jahren beste Freundinnen, pressten ihre Lippen aufeinander. Es folgte ein Drama. Für die Frauen und für die Männer. Erst totschweigen und verdrängen, dann sprechen, Liebe gestehen, die Männer, Freunde und Familien vor den Kopf stossen. Heute sind Didi und Sara verheiratet. Didi erwartet – mithilfe eines Spenders aus Dänemark – das zweite Kind.
Die beiden kann man als späte Lesben bezeichnen. Sie interessieren sich für Männer, heiraten sogar, und erst jenseits der 30 outen sie sich als homosexuell. Man spricht dabei oft von «Late Bloomers» (Spätzünder). Dazu findet sich auch einiges in der Literatur: «Married Women who love women», «Late Bloomers: Awakening to Lesbianism After Forty», Switching Teams».
Späte Lesben sind in den letzten Jahren durch zahlreiche Outings prominenter Frauen in den Fokus gerückt. Die bekannteste ist vielleicht die Schauspielerin Cynthia Nixon, berühmt als «Miranda» aus «Sex and the City». Die Rothaarige lebte 15 Jahre mit einem Mann und bekam Kinder mit ihm, bevor sie sich für eine Frau entschied. Jodie Foster war 45 Jahre, als sie sich öffentlich zu ihrer Partnerin bekannte. Die deutsche Fernsehmoderatorin Anne Will outete sich mit 44. Ganz unaufgeregt sagte sie über sich und ihre Begleitung: «Ja, wir sind ein Paar». Nüchtern und voller Selbstsicherheit, ohne verteidigen zu wollen à la Klaus Wowereits berühmten Nachsatz: «… und das ist auch gut so».
Waren diese Frauen schon immer lesbisch und versteckten ihre Gefühle aufgrund des gesellschaftlichen Drucks oder hat sich ihre sexuelle Vorliebe mit der Zeit verändert? Dieser Frage widmet sich auch die Wissenschaft.
Eine Erkenntnis: Es kann durchaus sein, dass Frauen oft – insbesondere früher – den traditionellen Weg suchen, weil das die Gesellschaft verlangt und sie nicht den Mut haben, ihr eigenes Leben zu führen. Das bringt sie dazu, später als «Lesben» zu leben. Es ist vielleicht auch der Familienwunsch, der heute ja nicht mehr unmöglich wirkt, der aber früher für viele Frauen nicht denkbar war.
Auch Constance Hoppmann von der HAZ (Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich), die seit zwei Jahren die Lesbenberatung leitet, sagt dazu: «Es kommt vor, dass sich Frauen in das Konstrukt von Ehe und Familie einpassen und dann versuchen, ein «normales» Leben zu führen, weil anders zu sein als die Mehrheit mit Schwierigkeiten verbunden sein kann.» Es brauche noch viel mehr Aufklärung, damit die Hürde des Sich-Outens nicht so gross sei.
Doch immer mehr kommen Forscher zum Schluss, dass sich die sexuelle Orientierung der Frauen mit der Zeit verändern kann. Die amerikanische Wissenschafterin Christian Moran verfasste eine Studie zum Thema «Late Lesbian». Ihr Ergebnis: «Eine heterosexuelle Frau kann eine komplette Verwandlung zu einer lesbischen Identität durchmachen. In anderen Worten, sie können ihre sexuelle Orientierung wechseln.»
Die Forscherin Lisa Diamond hat in einer Langzeitstudie die Veränderungen sexueller Identitäten von Frauen untersucht. Es gebe Frauen, die ihre Neigung unterdrücken, doch viele hätten erst zu einem späteren Zeitpunkt gemerkt, dass sie auf Frauen stehen. Meist ausgelöst durch eine ganz bestimmte Frau. Bei Didi war es ihre beste Freundin, zu der sie sich plötzlich hingezogen fühlte. Didi sagt, sie habe sich in den Menschen verliebt. Diese Erfahrung ist eher eine weibliche. Frauen seien offener und formbarer, was die sexuelle Orientierung betrifft. Männer tendieren eher dazu ein «bevorzugtes» und ein «nicht bevorzugtes» Geschlecht zu haben.
«Es braucht Mut, und man muss auch sich selbst kennen. Vielleicht benötigen Frauen mehr Zeit, um sich selber zu bestätigen», sagt Barbara Lanthemann von der Lesbenorganisation Schweiz (LOS). Sie fragt: «Ist es nicht auch so, oder war es zumindest früher so, dass Frauen ihren eigenen Körper nicht kennen?» Dafür brauche es eben Lebenserfahrung. Bei der Lesbenorganisation melden sich ab und zu Frauen, die Fragen zu einem späten Outing haben. Meistens weil es dann auch Probleme mit dem Ex-Mann gibt oder weil sie um das Sorgerecht fürchten.
John ist so ein Ex. Zwar ohne gemeinsames Kind, aber mit verletztem Ego. Seine Ex-Freundin hat ihn für eine Frau verlassen. Er fragt sich beinahe täglich, wie es dazu kam. Waren sie doch neun Jahre ein Paar und er begleitete sie für ihren Job in die Schweiz. Nach einem Jahr sass sie am Küchentisch und sagte: «Ich habe Gefühle für eine Frau.» Heute lebt sie mit ihr zusammen und das, obwohl sie zuvor niemals eine sexuelle Erfahrung mit einer Frau hatte.
Die Wissenschafterin Diamond vermutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand über sexuelle Grenzen bewegt, mit dem Alter zunimmt. Bei Frauen, die sich später outen und sogar eine Familie gegründet haben, kommt wohl verstärkt hinzu, dass die Kinder irgendwann gross sind, die Ehe nicht mehr so wie am Anfang funktioniert, dann ergibt sich für viele Frauen erst die Möglichkeit, über das Leben nachzudenken. Bin ich glücklich? Was will ich in meinem Leben?
«Outing», so die Lesbenberaterin Hoppmann, «ist immer verbunden mit dem Überschreiten von Ängsten. Es wirkt wie ein Neuanfang, aber am Ende ist frau hinterher der gleiche Mensch wie vorher. Im Inneren jedoch hat sich etwas Existenzielles verändert.»