Wenn
wir uns die USA anschauen ...
Judith Butler: Aha.
Keine
Angst, wir werden erst später über Trump
reden.
Ich ziehe es vor, seinen Namen nicht
auszusprechen.
Wenn
wir uns also die USA anschauen, haben wir das Gefühl, es handelt sich dabei um
ein wahres Gender-Wonderland. Alles ist möglich. Aus dem ehemaligen
Olympioniken Bruce Jenner wird Caitlyn Jenner. Der Ex-Soldat und Whistleblower
Bradley Manning verlässt das Gefängnis nach sieben Jahren als Chelsea Manning.
Hat die Gesellschaft da ein paar riesige Schritte vorwärts gemacht oder
verklären wir gerade alles?
Das ist alles sehr komplex. Caitlyn Jenner
und Chelsea Manning sind Figuren mit allergrösster Publizität. Aber sie teilen
sicher keinerlei politische Ansichten und stehen sozial und politisch gesehen
für ganz unterschiedliche Arten von Transmenschen. Gerade unter jungen Leuten
gibt es heute so verschiedene, feinste Abstufungen von Identität, dass ich
Gender als Spektrum, also als riesige Palette betrachte. Es gibt da so viele
Möglichkeiten, dass es hart für mich ist, auf dem Laufenden zu bleiben.
Selbst
für Sie? Dabei sollten Sie doch alles über das Thema wissen!
Aber ich habe keine Ahnung! Ich arbeite
gerade an einem Kinderbuch über Geschlechterzuordnung. Dafür rede ich viel mit
14- und 15-Jährigen. Ihr Vokabular ist ganz anders als meins, umwerfend
komplex. Ich lerne viel von ihnen. Nicht umgekehrt.
Gehen
wir noch einmal zu Caitlyn und Chelsea. Die eine ist erzkonservativ und
unterstützt die Republikaner. Die andere ist eine Cyberpunk-Aktivistin. In
früheren Kämpfen um Identitätsfindung hiess es: Das Persönliche ist politisch. Heute
scheint es nichts mehr mit einer politischen Agenda zu tun zu haben.
Caitlyn Jenner macht viel Eigenwerbung,
glaubt an Marktwirtschaft und Medienmacht. Das ist schon eine Agenda, nur nicht
die, die wir lieben. Chelsea Manning ist komplizierter. Chelsea Manning hat
Geheimnisse enthüllt, die das US-Verteidigungsministerium betrafen. Manche
halten sie für eine linke Freiheitskämpferin, andere für eine Staatsfeindin. Es
ist für mich eine offene Frage, ob es eine konzeptionelle Verbindung gibt
zwischen ihrem Coming-Out als trans, ihrem Enthüllen von Geheimnissen und ihrem
Beharren auf Informationsfreiheit. Jedenfalls scheint es, als gäbe es in ihrem
Leben und ihrem Handeln eine Art Freiheitsphilosophie.
Wenn Sie
mit den komplex denkenden 14-Jährigen reden oder wenn Sie sehen, wie sich eine
Miley Cyrus als «genderfluid» bezeichnet, denken Sie dann manchmal: Wow, ich
war ihre Wegbereiterin?
Nein! Nein, sowas denke ich nie! Ich kam
vergleichsweise spät. Als ich vor vielen, vielen Jahren «Gender Trouble»
schrieb – wie lang ist es her? 27, 28 Jahre? Irgendeine riesengrosse Zahl –
reagierte ich auf eine existierende soziale Bewegung. Ich bewunderte damals
besonders die Drag Queens in meiner Lieblingsbar, die Weiblichkeit so viel
besser darstellten, als ich das jemals vermocht hätte. Ich fragte mich: Was
heisst es, dass ich das nicht kann, dass ich das nicht können will, dass es
schlicht nicht in meiner Macht steht, dies zu tun – aber sie tun es so
wundervoll! Als ich jung war erlebte ich auch die tägliche Verwandlung meiner
Mutter ...
... ja,
das Malen eines Gesichts!
Genau, sie hatte am Morgen eine bestimmte
Art aufzustehen, dann malte sie sich ein Gesicht und wurde zu diesem
«weiblichen» Geschöpf. Ich war ungefähr acht, als ich begriff, dass man
bestimmte Mechanismen durchlaufen muss, um seine Identität herzustellen.
Dürfen wir
ein Bild ins Spiel bringen? Nämlich Beyoncés Schwangerschaftsankündigung?
Ja natürlich.
Es
handelt sich bei dem Bild ja um das meistgelikte Bild auf Instagram, es wurde
über 11 Millionen Mal geherzt. Wir sehen darauf eine starke, schwangere,
schwarze Frau. Ein klares Subjekt. Ist das nicht ein Widerspruch zu ihrer
These, dass Gender immer in einer Performance hergestellt wird?
Nein, wieso? Im Kern arbeitet doch jede
Identität mit einem Subjekt, und jedes Subjekt wird irgendwie produziert. Wir
könnten sagen, Beyoncé steht als Subjekt hinter diesem Bild. Sie hat ja auch
ein Leben, sie wohnt in New York und in Los Angeles, ist mit Jay-Z verheiratet
... Wir wissen viel über sie. Aber wir wissen nichts über ihr Inneres, sie gibt
nichts preis. Sie produziert Bilder, die wir zu unserem Vergnügen konsumieren
können, und mit denen sie in den Medien ein Ich erzeugt. Sie kann einzig durch
Bilder und Songs eine Identität erzwingen, und wir können nur über Bilder und ihre Musik mit ihr
kommunizieren. Etwas riskant ist, dass sie auch singt und tanzt, sie hat nicht
ganz so viel Kontrolle über ihr Bild auf der Bühne wie über ihr Bild im Bild.
Verkörpert sie nicht einfach das uralte Bild der Frau als Heilige?
Hier
entblösst sie ihren mütterlichen Körper und ist wunderschön dabei. Die ganzen
Blumen sind heidnisch, sie selbst hat aber etwas von einer christlichen Madonna.
Sie hält ihren Bauch und damit ihren Fötus in einem Akt mütterlicher Fürsorge.
Ihr Blick ist stark und direkt. All dies steht nicht im Widerspruch zu ihrer
ausgeprägten Sexualität und ihrer Macht als Künstlerin und öffentlicher Figur.
Sie hält alles fürsorglich zusammen. Manche mögen es für skandalös halten, dass
sie als Madonna auftritt, aber es ist grossartig, dass eine starke schwarze Frau dies
tut.
Ein
anderes Bild ist dieses Internet-Meme: Lady Gaga zitiert sich selbst mit «Ich
bin so geboren worden», ein Song, der Millionen junger Menschen aus der
LGBTQ-Bewegung Mut gemacht hat. Der Philosoph Michel Foucault antwortet darauf:
«Nein, du bist das Produkt eines Machtgefüges.»
Wieso
spricht Lady Gaga mit ihrem Song so viele Menschen an, so viele Transmenschen,
Lesben und Schwule? Eigentlich ist es ja
ein Witz: Soviel ich weiss, ist Lady Gaga nicht lesbisch, sie mag vielleicht
bi sein. Sie sagt also wenig über sich selbst, aber sie spricht für alle
anderen. Sie gibt einem «Etwas» eine Stimme. Aber was ist dieses Etwas? «Ich
bin so geboren worden» ist eine Redewendung und heisst: Ich kann mir nicht
helfen, das ist ganz tief in mir drin, es lässt sich nicht ändern, es ist Teil
meiner Existenz. Es sind Worte für etwas, das sich sehr tiefgründig, sehr
inhaltsschwer und fundamental anfühlt.
Und Foucault benennt die Mechanismen, die dafür verantwortlich sind?
Was Foucault in diesem Meme nicht sagt,
ist, dass wir in Machtgefüge hineingeboren werden. Dass wir in Gender-Normen
hineingeboren werden. Sie formen mich, bevor ich auch nur die geringste Ahnung
von ihnen habe. Ich meine, ich weiss doch nicht, wie ich so geworden bin. Ich
kann keinen Rechenschaftsbericht über meine Gender-Formierung liefern. Mit Lady
Gaga kann man sagen: «I was born this way.» Mit Foucault: «I was born into
power relations.» Und das kann gut das Gleiche bedeuten.
Was
halten Sie davon, wenn in Mainstream-Shows wie «Germany’s Next Topmodel» oder
dem Schweizer «Bachelor» oder in der Werbung von Grosskonzernen wie L’Oréal
plötzlich inflationär Transmodels oder queere Models eingesetzt werden?
Ich denke, wir müssen sie sehr vorsichtig
lesen. Sobald sie zu vermarktbaren Identitäten werden, sind der
queer-marxistische Zugang und die queer-kapitalistische Kritik am Ende. Ebenso
die queere Kritik an normativen Geschlechterzuschreibungen. Denn plötzlich sind
all dies nur noch Möglichkeiten, die man verfolgen kann, wenn man sich selbst
zu Markte trägt und Teil des neoliberalen Projekts der Selbstoptimierung und
des kapitalistischen Plans wird. Gelegentlich werden die Leute Bilder von
Transmenschen in den Medien, in Film und Fernsehen akzeptieren, weil sie einen Wert als Spekakel haben. Sie wollen sie in Bildern konsumieren, obwohl
sie keine Nähe zu ihnen haben wollen, obwohl sie nicht wollen, dass ihre
Tochter mit ihnen zu tun hat oder eine von ihnen wird. Es wird sich nicht in
einen grösseren und radikaleren Wandel übersetzen lassen.
Aber
könnte man nicht auch sagen, dass der Kapitalismus das einfachste Mittel ist,
um eine gewisse Sichtbarkeit und Freiheit zu fördern?
Sie hat ihren Preis, diese Freiheit, die
sagt: Ich kann mein Gender frei wählen, ich kann mich in das Gender meiner Wahl
hineinkaufen, wenn ich genug Geld für Psychiater und Operationen besitze.
Welche Art von Freiheit ist das denn? Es ist keine gesellschaftliche,
gemeinschaftliche Freiheit. Es ist nicht die Freiheit, für die Menschen
kämpften, die Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit wollten. Als sie
gegen Gewalt oder Gefängnisstrafen protestierten. Diese Freiheit ist es nicht.
Es ist nur die Freiheit des Marktes.
Dürfen
wir doch noch schnell was zu Trump fragen?
Okay.
Vor
einem Jahr erlebten wir Trumps absolut irrationalen Aufstieg. In der jüngsten
Vergangenheit sahen wir die öffentliche Kastration des Harvey Weinsteins. Zwei
sexistische alte weisse Männer also. Beide Ereignisse – der Aufstieg des einen
und die Attacke auf den andern – zeichnen sich durch extreme Radikalität
aus. Haben Sie sowas schon mal erlebt?
Es ist richtig, dass die öffentliche
Debatte empört und giftig geworden ist und dass die Menschen weniger Hemmungen
haben, zu sagen, was sie sagen wollen. Aber wir können nicht annehmen, dass
alle Frauen, die sich gegen Weinstein ausgesprochen haben, auch gegen Trump
sind. Vielleicht haben sie auch für Trump gestimmt. Sie mögen zwar gegen
sexuelle Belästigung und Vergewaltigung sein, aber sie kommen von links, von rechts
und aus der Mitte. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass die Zeugnisse gegen
Weinstein giftig waren, ich nahm es eher so wahr, dass Frauen einander ruhig Geschichten über Verletzungen erzählten. Doch die Häufung dieser Geschichten führte zur
Wahrnehmung, dass wir uns alle auf einen Mann stürzen. Dabei haben wir doch ein
viel grösseres Problem: Sexuelle Gewalt zieht sich durch so viele Institutionen,
in der Ausbildung, im Militär, am Arbeitsplatz, sie ist überall.
Wie zum
Teufel kriechen wir denn endlich aus diesem Morast heraus, der seit den 70ern
genau gleich schmuddelig riecht?
Analysieren wir das Problem doch
strukturell, schauen wir, wie sexuelle Gewalt zugelassen und reproduziert wird.
Machen wir nicht eine einzelne Person zum Sündenbock. Etwas Ähnliches gilt für
Trump: Wir könnten uns endlos über seine entsetzliche Persönlichkeit
unterhalten. Aber es geht nicht nur um ein irrationales Individuum. Es geht um
schrankenlosen Wohlstand, rechten Populismus, die Missachtung der konstitutionellen
Demokratie. Sie sind kriegerisch, militaristisch, frauenfeindlich, rassistisch.
Diese Formen der Macht müssen wir beobachten und uns fragen: Wie ist es
möglich, dass genug Menschen für diesen Mann stimmten und sich von seinen
Ansichten überzeugen liessen? Was müssen wir ihnen entgegenhalten? Wie können
wir sie von ihren Überzeugungen abbringen?
Und das
wäre?
Es ist wichtig dass die Demokraten oder
eine dritte Partei – ich gehöre wie Bernie Sanders zu den demokratischen
Sozialisten – anfangen, die riesigen ökonomischen Ängste derer anzusprechen,
die ihre Jobs, ihre Häuser, ihre Krankenversicherung verloren haben. Wenn
Menschen unter ökonomischen Ängsten leiden, werden sie empfänglich für alle
möglichen rechten Positionen. Wir müssen die Demokraten wieder linker machen
und eine Partei schaffen, die für soziale und ökonomische Gerechtigkeit
einsteht und Hoffnung macht und diejenigen überzeugt, die sich überzeugen
lassen.
Aber die Hoffnung auf Hoffnung fällt nicht gerade leicht, oder?
Die «White Supremacists» wird niemand überzeugen. Es ist ein Kampf.
Aber ich fühle mich ermutigt: durch die Demonstrationen und die vielen
politischen Debatten. Die USA sind gerade derart politisiert, dass es für mich
manchmal überwältigend ist. Ich rechne damit, dass Trump vom Thron gestossen wird.
Entweder bald oder bei der nächsten Wahl.
Auf
einer persönlichen Ebene gefragt: Wir haben alle einen Menschen in unserem
Leben, der überzeugt werden muss. Wie finden wir da zu einer konstruktiven
Kommunikation ohne sie anzuklagen?
Es darf nicht persönlich werden. Nur weil
jemand weiss ist, heisst das nicht, dass er ein «White Supremacist» ist. Nur
weil einer ein heterosexueller Mann ist, heisst es nicht, dass er Antifeminist
oder homophob ist. Ich will mich in diesem Zusammenhang nicht auf die
Kategorien eines Subjekts festlegen. Mich interessieren Formen der Macht und
wie diese innerhalb einer Gesellschaft entstehen. Wir brauchen öffentliche
Diskurse, die uns ermöglichen, diese Mechanismen zu verstehen. Wir müssen uns
fragen, wie Menschen behandelt werden, wie sie wohnen, welche Schulen sie
besuchen, wie Rasse in diese Formen von Hierarchie und Ungleichheit
hineinspielt. Das interessiert mich, nicht die persönlichen Anschuldigungen. Die
treiben uns nur in die Defensive und machen unsere Kämpfe kleinlich. Wir brauchen eine neue transnationale Bewegung, die unsere Kämpfe gegen Rassismus, Homophobie, Misogynie und ökonomische Ausbeutung in einem Kampf für Freiheit und Gleichheit einbettet. Sonst verirren wir uns.
Dieses Interview wurde im Rahmen der Tagung «Over Her Dead Body Redux: Feminism for the 21st Century» zu Ehren der Anglistikprofessorin Elisabeth Bronfen an der Universität Zürich geführt. Gerne verweisen wir hier auch auf die Tagungs-Rede der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch.