Die Lösung des Rätsels um den Absturz des Germanwings-Flugzeugs in Südfrankreich rückt näher: Der erste Flugschreiber wurde geborgen und soll nun in Paris untersucht werden. Bei dem Gerät handelt es sich um den Cockpit Voice Recorder (CVR), der Geräusche und Gespräche im Cockpit aufzeichnet. Sollten die Daten verwertbar sein, könnten sie einiges darüber verraten, wie es zum Absturz des Airbus A320 kam.
Doch auch die bereits verfügbaren Daten erlauben es, zumindest Theorien zu einigen besonders rätselhaften Details zu entwickeln.
Aller Wahrscheinlichkeit nach: ja. «Es ist kaum denkbar, dass ein komplexer technischer Defekt dazu führt», erklärt Oliver Lehmann, Professor für Flugführung und Luftverkehr an der Technischen Universität Berlin. Deshalb sei davon auszugehen, dass es ein schwerwiegendes Problem an Bord gab. Dafür spricht auch, dass es sich laut den Daten um einen zwar zügigen, aber kontrollierten Sinkflug mit einer Geschwindigkeit von etwa 2500 und 5000 Fuss (rund 800 bis 1500 Meter) pro Minute gehandelt hat. Das könnte für einen sogenannten «open descent» sprechen: Der Autopilot erhält von der Crew eine neue Zielhöhe und leitet den Sinkflug ein, indem er die Triebwerke auf Leerlauf schaltet.
Die Flugdaten zeigen, dass der Sinkflug bereits über der Mittelmeerküste begann. Es wären also mehrere grosse Flughäfen in der Nähe gewesen, etwa Marseille, Toulon, Cannes oder Nizza. Warum das Flugzeug dennoch geradewegs ins Gebirge geflogen ist, kann bisher nicht beantwortet werden. Hier könnte der gefundene Stimmenrekorder wertvolle Anhaltspunkte liefern.
Dafür sprechen einige Details. Denn obwohl die Besatzung den Sinkflug wohl noch bewusst eingeleitet hat, hat sie ihn nicht wie üblich bei der Flugsicherung beantragt. In Notfällen lautet für Piloten die Regel «aviate – navigate – communicate»: Zuerst muss das Flugzeug in eine sichere Lage gebracht werden, an zweiter Stelle kommt die Navigation und erst an dritter die Kommunikation. Eine plötzlich eintretende Notlage könnte also erklären, warum es zwischen Besatzung und Bodenkontrolle nach Beginn des Sinkflugs keinen Funkverkehr mehr gab.
Nach dem Beginn des Sinkflugs hielt die Maschine zudem exakt ihren vorgegebenen Kurs. «Auch das deutet darauf hin, dass der Autopilot eingeschaltet war», sagt Lehmann. «Bei einem rein manuellen Flug hätte es leichte Kursabweichungen gegeben.» Der Experte hält deshalb ein Szenario für denkbar, das auch schon in Piloten-Internetforen ins Spiel gebracht wurde: Es könnte im Flugzeug zu einem plötzlichen Druckabfall gekommen sein.
Laut diesem Szenario hätten die Piloten zwar noch den automatischen Sinkflug einleiten können, wären dann aber bewusstlos geworden. Falls es so war, könnte das könnte auch erklären, warum die Maschine ungebremst auf den Fels aufprallte und es während des achtminütigen Sinkflugs keine von aussen erkennbaren Gegenmassnahmen der Crew gab. «Hinweise könnte man auch schon durch die Untersuchung des Wracks bekommen», so Lehmann. «Bei einem Druckverlust müssten in der Kabine automatisch die Sauerstoffmasken aus der Decke gefallen sein.»
Das erscheint eher unwahrscheinlich. Der Autopilot gehört zu den Systemen, deren Stromzufuhr sich abschalten lässt. Auf diese Weise gelang es etwa den Piloten eines Airbus A321 im November 2014, einen Absturz zu verhindern. «Welche Rolle der Autopilot gespielt hat, wird sich aber erst nach der Auswertung der Flugschreiber beantworten lassen», so Lehmann.
Passagierflugzeuge sind mit einem Flugschreiber, dem Flight Data Recorder (FDR), und einem Stimmenrekorder, dem Cockpit Voice Recorder (CVR) ausgerüstet. Der Flugschreiber zeichnet zahlreiche technische Daten auf – darunter die Geschwindigkeit, Aussendruck, Flughöhe, Flugrichtung, Beschleunigungswerte, die Position des Steuerknüppels und der Ruderpedale sowie den Treibstofffluss. Dieser wurde noch nicht gefunden. Der Sprachrekorder nimmt zusätzlich alle Geräusche aus dem Cockpit auf – also neben den Gesprächen der Besatzung auch Alarmtöne und den Klang der Triebwerke. Er wurde bereits geborgen und wird nun in Paris untersucht.
Das ist durchaus möglich, da beide Geräte in extrem robusten Gehäusen untergebracht sind. «Selbst wenn die Aussenhüllen und die Schnittstellen zerstört sind, lassen sich aus den Speichermodulen möglicherweise noch Daten auslesen», sagt Lehmann. Allerdings gibt er zu bedenken, dass der Aufprall des Airbus in Südfrankreich extrem heftig war: Die Maschine ist laut den Flugdaten mit fast 800 km/h in eine Felswand eingeschlagen, also nahezu mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel. Deshalb sind am Unglücksort auch fast nur kleinformatige Trümmerteile zu sehen.
Die verunglückte Airbus A320 war 24 Jahre alt, doch das Alter von Verkehrsflugzeugen gilt als nicht sicherheitsrelevant. Theoretisch verfügt ein Flugzeug sogar über eine unbegrenzte Lebensdauer – vorausgesetzt, es wird ordentlich gewartet. «Und ich bin fest davon überzeugt, dass Germanwings an dieser Stelle keine Defizite hat», sagt Lehmann. Ob ein altes Flugzeug durch ein neues ersetzt wird, ist für eine Fluglinie in erster Linie eine wirtschaftliche Entscheidung: Eine neue Maschine kostet zwar Geld, fliegt aber meist auch sparsamer.