Wir wollen mit Paulus beginnen, dem urchristlichen Missionar und ersten Theologen. Mit dem Mann, der auf dem Weg nach Damaskus, geblendet von einem gleissenden Himmelslicht, vom Pferd stürzte und fortan die Christen nicht mehr verfolgte, sondern taufte – wie es ihm die Stimme Jesu auftrug. So erzählt es uns zumindest die Apostelgeschichte.
Seine Auslegung der Bibel war über Jahrhunderte bestimmend – ja, ist es bedauerlicherweise immer noch.
Es gibt eine Menge Theorien über Paulus' Vision, eine geht davon aus, dass der eifrige Missionar unter halluzinatorischen Anfällen litt, ausgelöst durch Epilepsie. Der berühmte Kirchenkritiker Karlheinz Deschner beschreibt ihn in seiner «Sexualgeschichte des Christentums» in gewohnt bissig-ironischer Manier als «kleinen, o-beinigen, glatzköpfigen Mann, randvoll mit sexuellen Komplexen» – und obendrein «wahrscheinlich von Kind an impotent».
Dies können wir lächelnd ins Reich der Spekulation verbannen. Doch der Sexualhass tropft tatsächlich aus seinen Briefen. Paulus haben wir es grösstenteils zu verdanken, dass der Körper zum «Todesleib» wird. Alles, was er will, bedeute «Feindschaft gegen Gott». Der Christ müsse «seinen Leib martern und knechten».
Die Ehe betrachtete er als notwendiges Übel, als «Arznei gegen Hurerei». Wer also unbedingt eine Frau nötig hat, der solle halt heiraten. Doch legte dieses leuchtende Vorbild seinen Christuskindern selbstredend die eigene, gottgefälligste Lebensweise ans Herz – die ehelose und enthaltsame.
Wer schon verheiratet sei, sollte besser die Finger von seiner Frau lassen, denn das göttliche Heil sei dadurch erheblich leichter zu erlangen.
Die Ehe wird in der Folge gering geschätzt – und mit ihr wird auch die Frau zum Inbegriff aller Laster, Schlechtigkeiten und Sünden, zum Fluch des Mannes.
Er steigt zum Kronzeugen für das Zölibat auf, das er allen Christen, wie er selbst zugibt, ohne Anordnung des Herrn, anempfahl. Jesus lehrt davon nichts, selbst seine Jünger hatten Ehefrauen. Im Alten Testament finden sich Reinheitsgebote, die alles Sexuelle aus dem heiligen Bereich verbannen. So fusst auch das Zölibat auf der Vorstellung, dass die Unreinheit eines ehelichen Lebens den Gottesdienst verunmöglicht. Doch fordert die Bibel an keiner Stelle eine dauernde Entsagung.
Auf der Synode von Elvira wird 306 bestimmt, dass alle Gottesdiener sich ihrer Frauen bei Strafe der Absetzung enthalten müssen. Der Beischlaf mit der eigenen Frau galt allmählich als genauso schmutzig und unzüchtig wie der Verkehr mit einer Ehebrecherin oder Prostituierten. Das heilige Konzil von Toledo verlangte 653, unenthaltsame Priesterfrauen in die Sklaverei zu verkaufen.
Einen verheirateten Priester zu töten war legal, während es diesem jedoch verboten war, seine Frau zu lieben. Mitte des 11. Jahrhunderts machte Papst Leo IX. alle Frauen Roms, die mit Geistlichen zusammenlebten, zu Sklavinnen seines Palastes. 1139 wurde unter Papst Innozenz II. die Annullierung der Priesterehe beschlossen. Was vorher mit Strafen wie Foltern, Fasten und Exkommunikation bedroht war, verlor nun gänzlich an Gültigkeit. Die Ehelosigkeit wurde obligatorisch.
Doch mit der Keuschheit, die Kirchenlehrer Augustinus (354–430) als Quelle der geistigen Freiheit pries, verhielt – und verhält es sich noch – genau umgekehrt. Wer versucht, seinen Sexualtrieb zu beherrschen, wird von ihm beherrscht. Oder wie es Luther einst ausdrückte: Ein zur Enthaltsamkeit gezwungener Mann «gedenkt Tag und Nacht zu huren wie ein toller Hund».
Sex zu etwas Verbotenem zu machen, hat seine Bedeutung erst ins Unermessliche überhöht. All die erfolglosen Zölibatsdekrete, all die ungezählten Liebestragödien, all die grausamen Missbräuche, der aussichtslose Kampf gegen die Natur, wofür?
Weil ein unbeweibter Klerus die Geschäfte des Herrn sichert. Erstens, weil er billiger, zweitens weil er dadurch ständig verfügbar ist. Nicht zu vergessen ist auch der Umstand, dass die Kirche fast ausnahmslos durch alle Zeiten von alten Männern regiert wurde. «Müde, impotent und sadistisch geworden», wie Deschner sich ausdrückt, «verlangen sie das Zölibat.»
Oder um es mit den Worten Papst Pius II. (1405–1464) zu sagen:
Die Praxis war selbstredend im höchsten Grade unzölibatär. Der fanatische Inquisitor Robert der Bulgare († nach 1239) drohte den Frauen, die ihm nicht Willens waren, mit dem Scheiterhaufen, während Bischof Heinrich von Basel 20 Sprösslinge hinterliess. Ehrbar galt fast der, der sich mit nur einer Konkubine zufriedengab.
Rund 700 Freudenmädchen begleiteten die geistlichen Väter aufs Konzil von Konstanz (1414–1418), auf dem Jan Hus so hinterhältig verbrannt wurde.
Im 16. Jahrhundert wurde dann der an Heuchelei nicht mehr zu überbietende Hurenzins eingeführt: Jeder Priester, unabhängig davon, ob er enthaltsam lebte oder nicht, musste ihn an den Bischof zahlen. Wer es mit einer Nonne trieb, zahlte mehr, und wie viel Geld erst all die gezeugten Bastarde in die Kirchenkasse spülten!
Dieses schamlose Treiben brachte dann auch den Kragen des Zürcher Reformators Zwingli zum Platzen:
Das Zölibat wurde von den Protestanten sofort verworfen, ohne allerdings dabei die Frau aufzuwerten. Die Katholiken indes klammerten sich weiterhin daran fest – unglücklicherweise bis heute.
Wenn das Ideal ein keusches ist, so muss die Frau die Einfallspforte des Teufels sein. Für den Mann bedeutet sie Gefahr, Verführung, Schlechtigkeit. Das einzig sündlose Weib ist Maria, die Jungfrau und Gottesmutter – von deren ewiger Jungfernschaft vor dem 3. Jahrhundert kein Kirchenvater etwas weiss und deren unbefleckte Empfängnis nach etlichen Kämpfen erst um 1854 zum Glaubensdogma erhoben wird. In der Bulle von Papst Pius IX. heisst es dazu:
«Die Lehre, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt blieb, ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben. Wenn sich deshalb jemand, was Gott verhüte, anmasst, anders zu denken, als es von Uns bestimmt wurde, so soll er klar wissen, dass er durch eigenen Urteilsspruch verurteilt ist, dass er an seinem Glauben Schiffbruch litt und von der Einheit der Kirche abfiel, ferner, dass er sich ohne weiteres die rechtlich festgesetzten Strafen zuzieht, wenn er in Wort oder Schrift oder sonstwie seine Auffassung äußerlich kundzugeben wagt.»
Aus der päpstlichen Bulle Ineffabilis Deus, 1854
Je inbrünstiger Maria und ihre unvergleichliche Reinheit gepriesen werden, umso leidenschaftlicher wird Eva – und mit ihr alle normal gebärenden, natürlich lebenden Frauen – gehasst.
Sie durften die geweihte Hostie nicht mit blosser Hand empfangen, nicht singen in der Messe (dafür hatte man Kastraten), nicht menstruierend oder direkt nach der Geburt die Kirche besuchen. Sie durften das ganze Mittelalter hindurch – und laut kanonischem Recht bis 1918 – von ihrem Ehemann gezüchtigt, gepeitscht, mit Sporen traktiert werden, «bis das Blut aus hundert Wunden fliesst und sie wie tot zusammenbricht». Und sie mussten ihn dafür herzlich lieben. Die Lutheraner erörterten 1591 in Wittenberg die Frage, ob Frauen Menschen seien. 1672 kam eine ebenda erschienene Schrift zum Schluss: «Foemina non est homo».
Die Misogynie fand ihren Höhepunkt in den Hexenverfolgungen, die von 1430 bis 1780 ganz Europa verdüsterten. Der Text, der diese himmelschreienden Verbrechen legitimierte, wurde zu einem der ersten Bestseller in der Geschichte des gedruckten Buches: Der «Hexenhammer» (1486) von Jacob Sprenger und Heinrich Kramer. Von Hexern ist darin keine Rede, denn Frauen seien nicht nur fleischlicher gesinnt und dümmer als Männer, sondern auch glaubensschwächer.
Der Beweis der Autoren basiert auf einer haarsträubenden Schändung der Etymologie: Das lateinische Wort «femina» komme von «fe-minus», also «fe» (= fides, Glaube) und «minus» (= weniger). Nur logisch also, werden sie so leicht zu Satans Opfern.
Die angebliche Teufelsbuhlschaft wurde dann auch auffällig oft verwitweten oder unverheirateten Frauen unterstellt, den unnützen Gliedern der Gesellschaft. Während des Prozesses mussten sich die der Hexerei beschuldigten Frauen vollständig entkleiden. Dann wurden sie rasiert – für die Suche nach dem Hexenmal. Mit Nadeln stach man in alle Teile des Körpers, denn auch Schmerzfreiheit galt als Zeichen eines diabolischen Bundes.
Unter den qualvollsten Folterungen gestanden sie, mit dem übel riechenden, ziegenfüssigen Teufel Analverkehr gehabt zu haben, dass er sie mit Heiratsversprechungen verführt habe, dass sein Penis sich eiskalt und steinern angefühlt habe.
Die kirchliche Moral hat unbestritten sehr viel dazu beigetragen, dass dieses pathologische Feuerwerk an sexueller Frustration gezündet wurde. Ohne Schuldgefühle konnte man sich nun an diesen Frauen vergehen, sie ungestraft foltern, vergewaltigen und verbrennen. Die Ordnung wiederherstellen. Die Geschichte der Hexenverfolgung erzählt auch die Geschichte der europäischen Sexualität, die über Jahrhunderte als sündig geahndet wurde.
Sie erzog alle zur Schizophrenie, zur Zeugung mit schlechtem Gewissen. Denn die Reproduktion war der einzig legitime Grund für Eheleute, miteinander zu schlafen. Sie kam von Gott, die sexuelle Erregung, die Lust aber war die Folge des Sündenfalls. Und seither wird die Erbsünde durch Geschlechtsverkehr von Mensch zu Mensch weitergegeben. Danke, Augustinus, dass du die gesamte Menschheit als «verdorbenen Klumpen», als «elende Sündenmasse» definiert hast, dass du kleinen Kinderseelen ewige Höllenstrafen («mildester Art»!) angedroht hast, würden sie nicht getauft.
Theologen schreiben Sätze wie: «Wer seine Frau allzu heiss liebt, ist ein Ehebrecher.» Papst Alexander VII. verbot Eheleuten im 17. Jahrhundert den Zungenkuss. Es gab Zeiten, da durfte man seine eigene Frau nicht nackt sehen.
Wären die unzähligen kirchlichen Enthaltsamkeitsgesetze eingehalten worden, hätte man rund acht Monate im Jahr ohne Sex zubringen müssen. Und die verbleibenden vier Monate durften selbstredend nur in der Missionarsstellung genossen werden. Das Missachten solcher Regeln war stets mit der Drohung verbunden, befleckte, aussätzige, verwachsene oder vom Teufel besessene Kinder zu bekommen.
Der Ehebruch wurde jahrhundertelang mit übelsten Strafen belegt. Unter Konstantin dem Grossen (306–337) und seinen Nachfolgern war das «Säcken» der Ehebrüchigen geläufig, man steckte sie gemeinsam mit einer Schlange, einem Affen, Hahn oder Hund in einen Sack und warf diesen ins Meer. In den meisten Regionen bestrafte man die Frauen viel härter, die Treue gehörte in ihr Aufgabengebiet. Noch im frühen 17. Jahrhundert wurde ein «Wiederholungstäter» in Bern und Zürich mit dem Tode bestraft. Bis 1989 ahndete man den Ehebruch in der Schweiz auf Antrag der geschädigten Partei mit einer einjährigen Gefängnisstrafe oder einer Busse.
Ebenso schlecht erging es den Frauen, die abtrieben, den Homosexuellen und den Christen, die sich mit Jüdinnen einliessen: Der Koitus zwischen Christ und Jüdin galt gleichviel wie der mit einem Tier.
Das Onanieren galt als Freveltat, und selbst der nächtliche Samenerguss wurde in Klöstern mit Peitschenhieben bestraft. Es war die reinste Spermaverschwendung und wurde im 19. Jahrhundert als so pervers angesehen, dass man ganze Apparate zur Verhinderung der Masturbation schuf: Käfige mit Nägeln, Schenkelriemen und Vorhängeschlössern, die bei einer spontanen Erektion einen Klingelalarm auslösten.
Um all diese Schandtaten auch gebührend bestrafen zu können, sahen sich die Kleriker gezwungen, den biblischen Befehl zu missachten, der da heisst:
Die Bussbücher sind randvoll mit bemerkenswerten Intimitäten, die einen regelrechten Voyeurismus – oder selbst gepflegte Sonderbarkeiten? – seitens der Kleriker offenbaren:
Dies zeigt aber auch, dass sich die Menschen wohl kaum an die eisernen Regeln der Kirche gehalten haben. Und schaut man sich nur die spätmittelalterliche Kleidung an, überrascht das wenig: Enorme Schamkapseln, Penisköcher und Gliedschirme, wohin das Auge reicht. Betrunken zu sein, war eher der Normalzustand und in den Badehäusern, die sich nicht wirklich von Freudenhäusern unterschieden, wurde es erst im 16. Jahrhundert üblich, sich beim Besuch zu bekleiden.
Doch das Geschäft mit der Sünde war lukrativ, die Gläubigen sollten immer wieder freveln, denn nur so bedurften sie der priesterlichen Lossprechung. Die Kirche züchtete Millionen von schlechten Gewissen heran, und aus ihnen wurde notgedrungen der Selbsthass geboren. Denn offensichtlich war der Mensch, so wie Gott ihn schuf, nicht gut genug – und das Ideal blieb stets unerreichbar.
Das Hauptmass der christlichen Vollkommenheit war der Sieg über das eigene Ich, die Auflehnung gegen das Dasein, das Abtöten des Körpers.
Wenn der Körper die «Dunggrube», ein «Gefäss der Fäulnis, voll Schmutz und Scheusslichkeit» ist, dann muss er ordentlich gequält werden.
Die christliche Askese existiert seit dem vierten Jahrhundert. Der ägyptische Kopte Pachomios gründete die ersten christlichen Klöster und formulierte auch die dazugehörigen Drillregeln, von der sich die späteren Mönchsorden wie die Benediktiner inspirieren liessen.
Die Naherwartung erfüllte sich nicht, Jesus erhob sich nicht von den Toten und so musste die ewige Seligkeit ins Jenseits verlagert werden. Es setzte eine Weltflucht ein, die das frühe Christentum in die politische Kirche und die vom Profanen abgewandten Asketen spaltete.
Die Heiligenverehrung begann mit dem Märtyrerkult, doch als unter Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion wurde, verschwanden auch die Märtyrer. So wurde das Bewahren der Jungfräulichkeit, die Askese und die Selbstkasteiung zum Ersatz für den qualvollen Tod im Namen des Glaubens.
Frühe Asketen in Mesopotamien weideten wie Vieh das Gras vom Boden ab. Apa Sophronias tat dies siebzig Jahre lang splitternackt am Toten Meer. In Syrien liessen sie sich jahrelang so einmauern, dass sie die Sonne unerbittlich ausdorrte.
Von Arsenius (354–440), einem der grossen Wüstenväter, wird berichtet, er habe in der Sahara unaufhörlich seine Sünden beweint, eigens für seine Tränenbäche zog er sich einen Latz an, bis ihm von all diesen Sturzfluten der Trauer die Augenlider abfielen.
Im Mittelalter und in der Neuzeit finden sich zahlreiche Beispiele grausamer Selbstfolterungen, sie waren unter Nonnen und Mönchen üblich, vor allem bei den Mystikern, die eine Vereinigung mit Gott anstrebten. Doch dafür musste die Seele erst rein, sprich der Körper mitsamt seinen unwürdigen Wünschen abgetötet werden.
Dieser Ansicht war zumindest der Dominikaner Heinrich Seuse, das Musterbeispiel eines selbstkasteienden Mystikers. Er geisselte sich täglich und trug acht Jahre lang ein mit dreissig Nägeln gespicktes Kreuz auf dem Rücken, auf dass er mit der Faust schlug, damit die Nägel auch tief genug ins Fleisch drangen. Des Nachts liess er sich von Ungeziefer quälen, doch wollte er sich kratzen, hinterliess er nichts als offene Wunden und Blutströme – die ihm «ein lieblicher Anblick» waren – denn auch an den Handschuhen hatte er spitze Metallstifte angebracht.
Erst später kam er zur selbstkritischen Einsicht, dass man besser das von Gott aufgetragene Leid ertragen soll anstatt sich selber kaputtzupeitschen. Als Seelsorger des Dominikanerinnenklosters Oetenbach in Zürich versuchte er dann auch, Elsbeth von Oye das exzessive Verwenden ihrer selbst gefertigten Nadelgeissel auszureden.
Auch bei den Laien gab es solcherlei schmerzbetonte Bewegungen. Die Flagellanten waren Geisslerzüge, die sich vor allem Mitte des 14. Jahrhunderts seuchenartig über ganz Europa ausbreiteten. Sie waren Ausdruck der spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit in einer Zeit, in der sich der Papst mit seinem weltlichen Gebaren nicht mehr von einem König unterscheiden liess. Der Hundertjährige Krieg tobte, und verschiedene Beben, Missernten und Hungersnöte verdüsterten die Welt – und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, brach um 1340 auch noch die Pest aus.
Durch diese Endzeitstimmung zogen die Flagellanten und peitschten sich dabei blutig. Mit Fackeln, die Köpfe in dunklen Kapuzen verborgen, zogen sie jeweils in zwei Reihen in die Städte ein.
Die Qual wurde auf alle erdenklichen Weisen gesucht. Der Schmerz sollte eine intensive Gotteserfahrung ermöglichen – das Nachleiden der Passion Christi galt als Königsweg zum Seelenheil. Die Vorstellung vom Ertragen von Schmerz und einer damit einhergehenden Belohnung zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze abendländische Geschichte: Angefangen bei der Frau, die durch Evas Sündenfall ihr Kind unter Schmerzen zur Welt bringen muss, über die jahrhundertelange Züchtigung von Kindern, bis hin zu Nietzsches Ausspruch «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker». Der Schmerz bekommt einen Sinn – und zwar einen spirituellen.
Gleichzeitig sollte der Schmerz die Funktion der Triebtötung erfüllen. Nur leider sind beim Empfinden von Schmerz dieselben Gehirnregionen aktiv wie bei der Lust. Neuropsychologisch gehören Lust und Schmerz zusammen. Jegliches Erleben ist stets von beidem geprägt.
Die asketische Selbstquälerei kann also nicht dazu dienen, sexuelle Gefühle zu unterdrücken, im Gegenteil, sie führt höchstens zu Lustschmerz, zu vielseitigen Formen von Sadomasochismus. Der Mönch, der seinen Penis mit glühendem Eisen zu bändigen versucht, die Klosterschülerin, die von ihrer Meisterin gegeisselt wird, die vermeintliche Hexe, die vor dem jubelnden Mob verbrannt wird.
All das sind Formen krypto-sexueller Gewalt – selbstauferlegt oder anderen unfreiwillig zugefügt. Und manche davon sind an Grausamkeit kaum zu überbieten:
Im 12. Jahrhundert berichtet der Abt Ailred von Reversby von einer schwangeren Nonne im Kloster Wattun. Der Skandal sollte nicht an die Öffentlichkeit gelangen, und so berieten die Nonnen, was sie mit der sexuell Abtrünnigen verfahren sollten. Manche wollten sie schinden, verbrennen oder auf heisse Kohlen legen, die etwas Sanfteren schlugen vor, sie gefesselt – bei Wasser und Brot – in den Kerker zu werfen. Die Gefangene flehte um ihre Entlassung, der Mönch, in den sie sich verliebt hatte, wolle kommen und sie holen.
Die Nonnen entlockten ihr den verabredeten Treffpunkt, wo nun ein verschleierter Pater und weitere Brüder mit Knütteln seiner harrten. Als der Mönch kam und die Gestalt umarmen wollte, wurde er gepackt. Die Nonnen zwangen ihre schwangere Mitschwester, den Mönch zu entmannen. Dann stopften sie ihr seine blutigen Genitalien in den Mund und schleppten beide in den Kerker.
Im Stralsunder Brigittenkloster und im Kloster Mariakron fand man bei deren Abbruch in den heimlichen Gemächern ganze Kinderkörperlein vergraben.
In der westirischen Kleinstadt Tuam wurden 1975 796 Baby-Skelette gefunden. Doch niemand forschte nach – bis sich die Historikerin Catherine Corless des Falles annahm.
Die Knochen der toten Kleinkinder lagen in einem Massengrab auf dem Gelände eines ehemaligen «Mutter und Kind»-Heims für «gefallene Mädchen». Ledige Mütter also oder Frauen, die mit 30 noch unverheiratet waren und deshalb als Gefahr für verheiratete Männer galten. Das Heim wurde von Nonnen des katholischen Ordens Sisters of Bon Secours betrieben. Sie hielten die Kinder für «Ausgeburten des Satans» und so erfuhren sie dementsprechend wenig Fürsorge. Ein Drittel der Kinder in Tuam starb im ersten Lebensjahr, im Durchschnitt starb alle zwei Wochen ein Kind – eine Statistik, die ins 17. Jahrhundert gehört. Tatsächlich gestorben sind sie zwischen 1925 und 1961.
Die verlangte und meist unerfüllbare moralisch-asketische Grundhaltung führte selbstverständlich nicht immer zu solch unaussprechlichen Bestialitäten. Die Klöster waren über Jahrhunderte auch die Triebfedern für Kultur, Medizin, Philosophie und Literatur. Man könnte dies im freudschen Sinne als gigantische Abwehrleistung der menschlichen Psyche betrachten. Die fleischliche Begierde wurde gewinnbringend in akzeptiertes Handeln umgewandelt.
Aber man muss sich schon sehr viel Mühe geben, in den Schriften der Nonnen und Mönche, besonders in denen der Mystikerinnen, die fleischlichen Wünsche zu überlesen. Sie suchten nach transzendenten Erfahrungen, sehnten sich nach Verschmelzung mit dem Göttlichen, die auch immer sehr körperlich erfahren wurde.
Mechthild von Magdeburg (1207–1282) hat die mystische Vermählung ihrer Seele mit Jesus auch «an allen Gliedern empfunden». «Oh Herr, du schonst allzu sehr meinen pfuhligen Kerker!», ruft sie verzweifelt. Teresa von Ávilas (1515–1582) Herz wurde von einem goldenen Pfeil mit züngelnder Feuerspitze durchbohrt, er stiess mehrere Male hinein, drang bis in die Eingeweide vor. Und immer werden bei solcherlei Erfahrungen «Schmerz und aussprechliche Süsse» empfunden.
Manche schreiben von Liebeslanzen und Stossdegen, andere davon, dass ihre «Begierde und Lust im Säugen» des Jesuskindes liegt. Die heilige Katharina von Siena trägt zum Zeichen ihrer Verlobung mit Jesus dessen Vorhaut unsichtbar am Finger.
Zuletzt sollen auch die zahlreichen, angeblich von Dämonen (Incubi) besessenen Nonnen nicht unerwähnt bleiben. Im 16. Jahrhundert untersuchte der niederländische Arzt Johann Weyer, ein Bekämpfer der Hexenverfolgung, einen solchen Fall im Kölner Kloster Nazareth. Die Nonnen litten unter erotischen Krämpfen, lagen mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und führten Koitusbewegungen aus. Eine litt unter der Vorstellung, sie würde heimlich von ihrem Geliebten besucht – und steckte bald das ganze Kloster mit den mysteriösen Spasmen an. Sie setzten ein, nachdem ein paar Burschen sich nachts tatsächlich ins Kloster geschlichen hatten.
Kein Wunder, hat die Welt danach einen Sigmund Freud gebraucht. Und kein Wunder auch, hat er hinter jeder Störung, hinter jeder Neurose den verdrängten Sexualtrieb als Ursache gewittert.