Herr Hansjakob, 13 Jahre Haft und geschlossene Psychiatrie hat der Sozialtherapeut im Berner Missbrauchsprozess gekriegt.
Thomas Hansjakob: Ja.
Gleichzeitig findet sich für den jugendlichen Prostituiertenmörder kein Therapieplatz. Gibt es einen Zusammenhang?
Nein. Aber die Globalentwicklung, dass es zu wenig Plätze in Psychiatrien hat, um den Vollzug aller stationären Massnahmen auf längere Zeit zu garantieren, die gibt es.
Woran liegt das und wie dramatisch ist die Situation?
Ich weiss das nicht im Detail, das müssten Sie einen Vollzugsverantwortlichen fragen. Der Kriminologe Martin Killias hat kürzlich gesagt, es würden pro Jahr 150 neue Straftäter in stationäre Massnahmen geschickt, aber nur 15 entlassen. Mit anderen Worten bräuchte es jedes Jahr 135 neue Plätze, oder 400 in den nächsten drei Jahren.
Warum nimmt die Zahl der stationären Massnahmen so rasant zu? Das hat stark mit dem Wandel in der Rechtsprechung zu tun, der nach dem Mord vom Zollikerberg 1993 in Zürich eingesetzt hat. Die Gutachter haben seither sukzessive umgeschwenkt auf die Linie, dass man der Gesellschaft eine hohe Sicherheit vor gefährlichen Tätern garantieren muss. Die Hürden für eine Entlassung in die Freiheit sind für diese Täter heute viel höher als früher. Vor 20 Jahren waren Endstrafen für Gewalttäter an der Tagesordnung. Vier Jahre für einen Vergewaltiger, der nach zweieinhalb Jahren wieder draussen war, waren nicht ungewöhnlich. Heute sind die Gerichte auf die Rückfallgefahr sensibilisiert, bestellen eher einen Gutachter, der die Rückfallgefahr einschätzen soll. Wenn er eine feststellt, dann wird der Haftstrafe eine stationäre Therapie vorangestellt.
Sind die Psychiater auch strenger geworden?
Das würde ich nicht sagen, aber ihre Prognoseinstrumente haben sich massiv verbessert.
Sie sprechen Frank Urbaniok und sein System Fotres an. Das ist nicht unumstritten.
Natürlich nicht, aber es ist eine statistische Übungsanlage, die mit jedem Gutachten und Erfahrungswert besser wird. Und man kann nicht nur die Rückfallgefahr irgendwo festmachen, sondern hat auch Anhaltspunkte dafür, wie gross die Beeinflussbarkeit eines Täters ist, also ob eine Therapie bei ihm gut ansprechen würde oder nicht.
Inwiefern hilft Ihnen das als Experte bei den Empfehlungen an die Gerichte, ob stationäre Massnahmen verlängert oder beendet werden sollen?
Sehr. Der klassische Fall ist derjenige, dass die Rückfallgefahr bei einem Täter gross ist und die Beeinflussbarkeit gering, sprich: dass auch viel Therapie nur wenig bringt.
Was tun Sie dann?
In einem solchen Fall würde ich sagen, dass man die Massnahme noch einmal drei Jahre verlängert, damit auch die Rückfallgefahr geringer wird. Aber es ist natürlich immer auch eine Frage der Verhältnismässigkeit.
Wie meinen Sie das, eine Frage der Verhältnismässigkeit?
Je nach Schwere der Anlasstat und der Schwere der neuen Taten, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit befürchtet werden müssen, kann man stationäre Massnahmen nicht beliebig verlängern, solange die Anlasstat nicht eine der Taten ist, welche auch eine Verwahrung rechtfertigen würde. Dazu kommt der finanzielle Aspekt: Solche Therapien sind teuer. Man muss immer auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Wenn man sieht, dass die Beeinflussbarkeit dauernd gering bleibt, der Täter also therapieresistent ist, dann müssen Sie irgendwann eine andere Lösung finden.
Ihn rauslassen? Das scheint mir eine komische Auffassung von Verhältnismässigkeit zu sein.
Das können Sie sehen, wie Sie wollen, aber es ist nicht in allen Fällen Aufgabe des Strafvollzugs und der Justiz, einen Täter auf Teufel komm raus so lange zu therapieren, bis das Risiko für neue, auch bloss geringfügige Taten nur noch gering ist. Das gilt insbesondere bei ausländischen Tätern, die nach einer Freilassung in die Heimat ausgeschafft werden können.
Man schickt sie also in halbtherapiertem Zustand heim?
Es wäre unrealistisch, beispielsweise einen kosovarischen Täter für hundertausende von Franken zu therapieren, bis höchstwahrscheinlich ist, dass er dann im Kosovo nicht mehr delinquiert. In vielen Fällen wird man ohnehin sagen können, dass im eigenen Kulturkreis die Rückfallgefahr geringer ist, weil dort die Regeln eher respektiert werden. Justiz und Strafvollzug haben in erster Linie für Sicherheit in der Schweiz zu sorgen, nicht im Ausland. Darum therapieren wir ausländische Kriminelle weniger lang. Das ist auch aus den Statistiken ersichtlich. Die meisten Insassen in langen stationären Massnahmen sind Schweizer. Ausländer hat es im Vergleich zum Normalvollzug deutlich weniger.
Also, salopp gesagt, lassen Sie gefährliche Straftäter aus dem Ausland früher raus, weil's günstiger ist und es uns nicht zu kümmern braucht, wenn er zu Hause mordet und vergewaltigt?
Das ist ein heikles Thema, klar. Aber man darf es auch nicht so überzeichnen, wie Sie es jetzt tun. Gerade hat das Gericht in einem Fall in St. Gallen einem Kroaten, der wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt ist, eine bereits zehn Jahre dauernde Massnahme um zwei Jahre verlängert, obwohl schon jetzt klar ist, dass er danach ausgeschafft wird. Die Rückfallgefahr ist bei ihm nicht genügend klein.
Wie gross darf sie denn in Fotres-Massstäben noch sein, damit man ihn in die kroatische Freiheit entlässt? Fünf Prozent? Zehn Prozent?
Sie muss für schwere Gewalttaten gering sein, und zwar auch in der Heimat. Die soziale Kontrolle, die er dort allenfalls hat, wirkt günstig auf die Rückfallprognose.
Kann man das statistisch nachweisen?
Nein, wenn einer mal zurück im Heimatland ist, dann kriegen wir nicht mit, wie es dort mit ihm weitergeht.
Die Schweizer, sagen Sie, werden also länger therapiert, bis man sie in die Verwahrung schickt. Wann ist bei Ihnen der Punkt erreicht, wo Sie sagen: Jetzt bringt's nichts mehr, jetzt schliessen wir ihn weg?
So spät wie möglich. Die Gutachter sagen vor Gericht oft schon bei der ersten Verlängerung einer Massnahme, dass die Chancen einer weiteren deutlichen Verbesserung gering sind. Dann könnte man auch gleich eine Verwahrung aussprechen. Trotzdem verlängern die Gerichte weiter, wenn eine kleine Chance besteht. Ich glaube, dass man jede Chance auf eine Verbesserung der Legalprognose gewähren muss. Die Vollzugsbeamten sind da teilweise anderer Ansicht. Sie sagen, dass einer in einer stationären Massnahme weiss, dass er sowieso alle paar Jahre überprüft wird. Das sind schlechtere Voraussetzungen für die Therapie als bei einem, der in der Verwahrung sitzt und weiss, dass seine einzige Chance auf eine bedingte Entlassung das freiwillige Mitwirken an einer erfolgreichen Therapie ist.
Gibt es denn für diese Leute überhaupt Hoffnung? Die politische Grosswetterlage spricht gegen die Verwahrten. Es werden laufend neue und härtere Strafen gefordert.
Ja, aber die bringen ja nichts. Ein gefährlicher, psychisch kranker Straftäter lässt sich wegen einer strengeren Strafdrohung nicht von seinen Taten abbringen. Auch längere Strafen enden irgendwann; dass Ziel muss aber sein, dass jemand erst entlassen wird, wenn er nicht mehr gefährlich ist, und nicht, wenn die Strafe verbüsst wird. Deshalb kriegen gefährliche Täter heute stationäre Massnahmen, die das sicherstellen; wie lange die ausgefällte Strafe ist, spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle.
Eine neue Forderung im Nachgang des Falles des Prostituiertenmörders ist diejenige, dass die Massnahmen im Jugendstrafrecht nicht mehr mit 22 Jahren in jedem Fall enden müssen. 25 Jahre seien besser. Was halten Sie davon?
Das betrifft zwar nur ganz wenige Jugendstraftäter, ist aber kein abwegiger Gedanke. Viele Jugendanwälte sind der Meinung, dass die Grenze von 22 Jahren zu tief ist. Wenn einer schon vor 18 schwer delinquiert, weil er dissozial ist, dann stellt sich natürlich die Frage, ob man ihn bis 22 wieder auf die richtige Spur bringt und damit in vier Jahren nachholen kann, was in der ganzen Entwicklungsphase verpasst wurde.
Sie schätzen die Chancen als gering ein?
Ja, wir haben heutzutage schon eine andere Klientschaft als früher, mit zum Teil verwahrlosten und dissozialen Jugendlichen oder solchen mit massiven Drogenproblemen, die auch mit psychiatrischen Diagnosen einhergehen. Da kann man wenig dagegen haben, dass die Grenze da auf 25 angehoben wird. Aber viele Probleme löst man damit nicht. Es sind wirklich Einzelfälle. Weniger als einer von 1000 Jugendstraftätern.