Es ist, als habe Aki Kaurismäki das Drehbuch für diesen Viertelfinal geschrieben. Jeder der 12'000 Plätze in der Arena ist besetzt. Die ZSC Lions treten gegen ihren Lokalrivalen Kloten an. Logisch wäre: Wenn ein einziger Treffer diese dritte Viertelfinal-Partie entscheidet, dann brausen Jubelstürme durchs ausverkaufte Stadion. Tor! Tooor! Tooooor! Toooooor!
So ist es nicht. ZSC-Captain Patrick Geering erzielt in der 48. Minute das 1:0. Aber der Geräuschpegel im Stadion steigt nicht. Warum auch? Das Spiel ist nach einem Gerangel vor dem Tor der Klotener unterbrochen. Kein Grund zur Aufregung. Für 12'000 Männer, Frauen und Kinder ist klar: Gleich wird der Puck wieder eingeworfen und die Partie wird beim Stand von 0:0 fortgesetzt.
Aber so ist es nicht. Ganz und gar nicht. Was ist passiert? Die ZSC-Hinterbänkler der vierten Linie belagern das von Ludovic Waeber heldenhaft verteidigte Gehäuse. Klotens Stürmer Nolan Diem hilft hinten aus und schubst Joel Henry ins Tor. Das Spiel läuft weiter, und schliesslich gelingt es Patrick Geering den Puck irgendwie hinter die Torlinie zu bugsieren und die Schiedsrichter pfeifen ab.
Nur einer hat gesehen, dass die Scheibe hinter der Linie liegen muss: Patrick Geering. Aber er reisst die Arme nicht hoch und dreht nicht jubelnd ab. Er reckt nur die Faust kurz in die Luft und zeigt sofort energisch an, dass der Puck drin sein muss. Was im Geschiebe und Gedränge rund ums Tor der Klotener vom Publikum nicht registriert wird. Deshalb kein Jubel. Auch die Stadion-Soundanlage bleibt stumm. Mit Bertolt Brecht können wir sagen: Stell Dir vor, es ist Tor und niemand merkt es.
Patrick Geering wird nach dem Spiel sagen:
Schiedsrichter Stefan Hürlimann offenbar auch. Er entscheidet auf Tor. Aber sicherheitshalber sieht er auf dem Video nach, ob alles mit rechten Dingen zu und hergegangen ist. Dafür sind die Bildermaschinen ja da. Erst dann bestätigt er den Treffer. 1:0 für die ZSC Lions. Und so wird es bis zum Schluss bleiben.
Der Entscheid ist zu hundert Prozent richtig. Erstens ist auf dem Video tatsächlich zu erkennen, dass der Puck die Torlinie vollständig überquert hat. Und zweitens ist ebenso eindeutig zu sehen, dass Joel Henry von Nolan Diem vorher ins Tor befördert worden ist. Also keine Behinderung des Torhüters. Also ein reguläres Tor. Punkt.
Es ist Patrick Geerings 2. Treffer in seinem 51. Saisonspiel. Sein erstes Playoff-Tor seit dem Frühjahr 2018. Ein kurioses Tor, oder? Er korrigiert dazu in der ihm eigenen unaufgeregten Art:
Wo er recht hat, da hat er recht. Dass das 1:0 regulär ist, bestreitet nicht einmal Klotens Bandengeneral Lauri Marjamäki: «Unser Video-Coach hat sofort gesagt, dass wir auf eine Coach’s Challenge verzichten sollen. Es sei eindeutig, dass Diem den Zürcher Spieler ins Tor geschubst habe. Ob der Puck hinter der Torlinie war oder nicht, konnten wir auf unseren Bildern nicht sehen. Aber da musste ich den Schiedsrichtern vertrauen.»
Der Finne wird dreimal hintereinander von verschiedenen Chronisten (Chronistin war bloss eine da, aber sie hörte nur aufmerksam zu) auf dieses Tor angesprochen und dreimal hintereinander erzählt er nahezu emotionslos die gleiche Version. Keine Aufregung. Kein Zorn. Der fatalistische Realist sagt beinahe resignierend:
Klotens Trainer mahnt in dieser Situation fast ein wenig an eine Figur aus einem melancholischen Film von Aki Kaurismäki. In der Filmwelt des preisgekrönten finnischen Regisseurs kämpfen oft gewöhnliche Menschen gegen ein System an, das sie demoralisiert. Ein Ausweg scheint nur im Surrealen möglich. Ist das nicht genau so in diesem Viertelfinal? Das Defensivsystem der übermächtigen ZSC Lions demoralisiert die tapferen, braven Klotener und als Ausweg bleibt nur eine eigentlich surrealistische Offensivleistung.
Inzwischen sind die Klotener nämlich seit 163 Minuten und 59 Sekunden gegen die ZSC Lions in diesem Viertelfinal ohne Torerfolg. Nachdem sie zuvor das Play-In gegen Ambri mit zehn Treffern in zwei Partien gewonnen hatten. Bei Spielmitte hatten die Titelverteidiger und Gewinner der Champions League das Torschussverhältnis auf 17:1 geschraubt. Sie dominierten ihren Gegner nach Belieben zu Wasser, zu Land und in der Luft.
Bis ein Rumpelcheck alles ändert: Christian Marti, ein rauer, aber freundlicher und gutmütiger Haudegen und WM-Silberheld (31) kracht in Klotens Junior Rafael Meier (19). Er erwischt ihn am Kopf und wird – so wie es das Regelbuch zwingend vorschreibt – unter die Dusche geschickt. Aber Kloten kann das fünfminütige Powerplay nicht ausnützen. Bis zum Ende des Spiels gelingt es zwar, das Torschussverhältnis auszugleichen (26:26). Aber es bleibt beim 1:0. Klotens Offensive bringt, wie die alten Bauern sagen, lediglich viel Geschrei und wenig Wolle.
Die Hoffnung hat Lauri Marjamäki nicht ganz aufgegeben. Das tun auch die tragischen Helden in den Filmen von Aki Kaurismäki meistens nicht. Klotens Trainer schöpft ein wenig Mut aus der Vergangenheit und erzählt, im Frühjahr 2012 habe er daheim in Finnland mit Espoo den Viertelfinal gegen Kalevan Pallo nach einem 0:3 noch gewonnen. Ein Blick in die Statistikbücher müsste Kloten Mut und Zuversicht einflössen: Die Mannschaft von Lauri Marjamäki verlor damals die ersten drei Partien 1:3, 0:1 und 0:5. Ein Tor in drei Partien. Akkurat grad so wie Kloten nun im Viertelfinal gegen die ZSC Lions. Dann brauste Espoo viermal hintereinander zum Sieg: 3:1, 5:2, 4:3 und schliesslich im 7. Spiel 4:1.
Mehr als wohlfeiler statistischer Trost ist das für Kloten wohl nicht. Die ZSC Lions haben zwar 2022 den Final nach einem 3:0 gegen Zug noch 3:4 verloren. Aber diese Geschichte wird sich so wenig wiederholen wie Lauri Marjamäkis Espoo-Wunder von 2012.
Bleibt eigentlich nur noch eine Anmerkung zur Schiedsrichterleistung. Die war in diesem kuriosen Spiel mit dem kuriosen Tor exzellent. Punkt.
Erst dann zeigt er den Video-Review an und dort hört man dann zur Verwunderung allen(aussernden Z-Fans) das der On-Ice Entscheid Tor sei.
Sicher ein kurioses Tor, welches meiner Meinung nach einen sehr faden Beigeschmack hat.
Aber der Sieg ist natürlich gerechtfertigt, besonders wen man den Match bis zur 5min Strafe von Marti betrachtet. Aber auch danach immernoch Vorteile ZSC.
Gruss von einem HCD Fan