Im Pariser Vorort Seine-Saint-Denis war die neuste Ausgabe von Charlie Hebdo gestern nicht erhältlich. Nicht weil sie wie in der Hauptstadt sofort ausverkauft war, sondern weil sie in den Kiosken gar nicht erst auslag. Weil sie niemand kaufen würde. «Es tut uns weh, diese Karikaturen zu sehen», sagte ein Franzose tunesischer Herkunft gegenüber der israelischen Zeitung «Haaretz».
Viele muslimische Franzosen verurteilten die Terroranschläge von Paris und nahmen am Gedenkmarsch am Sonntag teil. Aus Seine-Saint-Denis, wo Hunderttausende muslimische Einwanderer wohnen, dürften indes nur wenige angereist sein. Eine Ausnahme bildete Hassen Chalghoumi, der liberale Imam der Vorortsgemeinde Drancy. Er kritisierte die Verbrechen unmissverständlich und in scharfen Worten.
Seine-Saint-Denis erlangte 2005 durch die Krawalle traurige Berühmtheit. Die sozialen Probleme sind gewaltig, die Bevölkerung nimmt rasant zu, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele sprechen kein Französisch, abgesehen von «neuf-trois», wie das Departement wegen seiner Vewaltungsnummer 93 hier heisst. Sowohl «Seine-Saint-Denis» als auch «quatre-vingt-treize» sind zu umständlich auszusprechen.
Was einige hier über die Terroranschläge denken, lässt der Hashtag #JeSuisKouachi erahnen, eine Abwandlung von #JeSuisCharlie, der auf die beiden Attentäter Said und Chérif Kouachi verweist. Zeitweise wurde er offenbar öfter getwittert als das Original.
Die Kluft zwischen der Anteilnahme in der Hauptstadt und der Gleichgültigkeit in den Banlieus bekommen die Lehrer in Seine-Saint-Denis besonders zu spüren. Sie wurden vom Erziehungsministerium angehalten, mit ihren Schülern über die Anschläge zu sprechen. Eine Frage, die sie oft hören: «Wozu eine Schweigeminute für Leute, die wir nicht kennen?»
In den vergangenen Tagen meldeten sich viele Lehrer anonym am Radio und schilderten ihre Erlebnisse in den Klassenzimmern. Einer erzählte von einem Schüler, der über den getöteten Polizist Ahmed Merabat spottete, weil er einer Behörde angehörte, die «Muslime unterdrückt». Ein anderer sagte: «Egal, was ich ihnen erzähle, zu Hause hören sie etwas völlig anderes.» Lehrer würden von solchen Schülern nicht mehr als Verbündete, sondern eher als «potentielle Feinde» betrachtet.