Es sind schliesslich die Fotos, die Dominik Riedo den Rest geben. Die Fotos, die er im Nachlass seines Vaters findet. Kinderpornografie. Buben in Unterhosen, die an den richtigen Stellen Löcher haben. Also hinten. Die Fotos sind die Bildwerdung all der Geschichten, die Dominik Riedo schon kennt. Der sichtbare Beweis. Der Rest waren Erzählungen, waren Texte, Tagebücher des Vaters, Polizeiprotokolle, Gutachten von Psychologen. Dominik Riedo ist 41, Sohn des Otto Riedo und Schriftsteller. Vor kurzem ist sein Buch «Nur das Leben war dann anders – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater» erschienen.
Die Reaktionen, die Riedo auf sein Buch erhält, beginnen schon, bevor das Buch geschrieben ist. Dass man sowas nicht dürfe, dass man über sowas schweigen müsse. Die Leute denken, das Buch werde eine Verteidigungsschrift für den Vater. Es ist keine geworden. Es ist «allen Opfern» gewidmet. Seither sind die Reaktionen ausgewogener, viele teilen Riedo jetzt ihr Schicksal als Opfer mit, selten fragt jemand, ob er sich eigentlich bewusst sei, was er dem luzernischen Littau, in dem er aufgewachsen sei, angetan habe.
Otto Riedo kommt 1942 als drittes von insgesamt 15 Kindern eines Bauern und Käsers in Tafers zur Welt, drei Jahre lang gibt ihn seine überforderte Mutter ins Waisenhaus. Danach ist er am liebsten mit seinen jüngsten Geschwistern zusammen, nicht mit den gleichaltrigen, die Kleinen sind seine kleinen Engel. Er macht eine Lehre als Bäcker, geht nach Zürich, macht eine kaufmännische Ausbildung, zieht nach Luzern, macht eine Lehramtsausbildung für Berufstätige. Damit ist er am Ziel. Die Schule ist voll von möglichen «kleinen Freunden».
Er heiratet. Er hat zwei Söhne. Er vergreift sich nicht an seinen Söhnen. Er bietet ihnen viel, er liebt nichts so sehr wie die Welt von Kindern, er identifiziert sich später mit Michael Jackson. Auch die «Knaben» lockt er mit Liebe. Mit Computerspielen, Nachhilfestunden, damit, dass er für sie kocht.
Die meisten sind Kinder von Migranten. Sie sind Otto Riedo dankbar für seine Hilfe. 1980 entdeckt ihn seine Frau zum ersten Mal mit einem von ihnen. 1987 zwingt sie ihn, auszuziehen. Die Nachbarn sind Polizisten. Niemand sagt etwas. Da ist Otto Riedo schon nicht mehr Lehrer, seine Nerven haben es nicht ausgehalten. Er ist jetzt Hausmann und Hilfsarbeiter. Die Knaben findet er jetzt vor allem in Shopping-Centern. Am meisten liebt er den Nikolaustag, wenn die Kinder dem Samichlaus auf den Schoss klettern. Stundenlang schaut er zu. Er liebt «Kevin – Allein zu Haus».
Otto Riedo gehört zu einem grösseren Schweizer Pädophilen-Ring. 1988 gibt es eine erste Polizeiuntersuchung. 1992 versucht er, nach Thailand auszuwandern, wird dort aber von andern Pädophilen betrogen und verliert all sein Geld. Im Dezember 1992 werden in der Schweiz zwölf Pädophile verhaftet, Otto Riedo ist einer davon.
Allein zwischen 1987 und 1992 hat er 25 Knaben «missbraucht». Zwar hatte der Missbrauch Grenzen – es gab keine Penetration –, aber sonst geschah so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann. Das Strafmass: 18 Monate bedingt. Erst 1995, mit dem Fall Dutroux in Belgien, werden die Strafen für Pädophile strenger, schreibt Dominik Riedo.
1992 erfahren seine Söhne endlich, dass der Vater pädophil ist. Zwei Kindheiten mehr zerbrechen und die Söhne fragen sich: Wieso hat sich Vater an uns nie vergangen? Weil er uns zu sehr liebte? Oder zu wenig? Und was war eigentlich mit den «Freunden», zu denen er uns gelegentlich mitnahm? Sahen die uns immer als Sexualobjekte? Und vererbt sich sowas? Und wieso haben wir als Kinder unseren Puppen mit einem Messer eine Vagina zurecht geschnitten?
«Nur das Leben war dann anders» ist zwar ein Buch für die Opfer, aber keines über sie. Es ist ein beklemmendes, erschütterndes Buch über den Vater, der 2013 als schwerer Alkoholiker starb. Es ist voll mit dessen Aufzeichnungen, sie sind grässlich. Einerseits in ihrer tiefen Not, in ihrem Schwärmen für die völlig verklärten Wesen, denen er eine erwachsene Gefühlswelt in einem kindlichen Körper zuspricht. Andererseits in einem sturen Verleugnen jeder Schuld, in der Idealisierung des eigenen Begehrens.
Es sind Zeugnisse einer absoluten Realitätsblindheit. Und von einem Leben, das immer nur mit Macht in Richtung Untergang gefahren wurde. Von einem Schicksal und einem Grauen, die sich jahrelang vor aller Augen abspielten. «Nur das Leben war dann anders» ist eine traurige, die Leser mit eisigem Griff packende Reportage über einen Täter. Zusammen getragen von einem, der bei allem Ekel, bei allem Zuviel, bei aller Unerträglichkeit der Erkenntnisse nie aufhören konnte, diesen Täter zu lieben. Weil er sein Vater war.
Dominik Riedo: – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater. Offizin Verlag, Zürich 2015. Ca. 29 Franken, 267 Seiten. Nur das Leben war dann anders
E-Lisa
MergimMuzzafer
dracului