International
Schweden

Schweden wird von einer Welle der Gewalt überrollt – der Hintergrund

Schweden wird von einer Welle der Gewalt überrollt – die Hintergründe

25.01.2023, 12:3927.01.2023, 06:14
Mehr «International»

Mord und Totschlag, Bandenkriminalität und Kinder, die sich als Auftragskiller anbieten. Und mittendrin geht ein Koran in Flammen auf. Was nach einem Endzeitfilm tönt, ist Realität in Schweden.

Der skandinavische Staat scheint gerade im grossen Stil zu versagen bei der Eindämmung einer Gewaltwelle, die über das Vorzeigeland schwappt – die Situation scheint zu eskalieren. Und das, obwohl die neue Regierung eigentlich alles besser machen wollte als bisher.

Was ist da los?

Die Gangs

Während die Mordrate mit Schusswaffen in vielen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren gesunken ist, ist die Rate in Schweden gestiegen, wie eine 2021 veröffentlichte Vergleichsstudie des schwedischen Nationalen Rates für Kriminalprävention zeigt.

2022 verzeichnete Schweden sogar eine Rekordzahl an Todesfällen durch Schusswaffen – die Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel. Besonders die Vororte der Hauptstadt Stockholm werden von Schiessereien und Explosionen erschüttert.

Der US-Zeitschrift Politico beschreibt eine junge Mutter ihre Ängste, während sie ein Loch in der Aussenwand ihres Wohnblocks betrachtet, das Sprengstoff dort hinterlassen hat:

«Wir haben Angst. Wir wissen, dass der Sprengstoff wahrscheinlich auf eine Person abzielte, die in unserem Gebäude lebt, aber es betrifft uns alle.»
A powerful explosion occurred at the Faros restaurant at Greta Garbo s Square in the Sodermalm area in central Stockholm, Sweden, on January 17, 2023. The restaurant s entrance was destroyed and a lar ...
Explosion in einem Restaurant, Stockholm, 17. Januar 2023.Bild: www.imago-images.de

Das prominenteste Opfer des Bandenterrors ist der Rapper Nils «Einár» Grönberg, der im Oktober 2021 in Stockholm erschossen wurde. Gegen den mutmasslichen Drahtzieher der Tat – den Anführer der Vårbynätverket – beginnt am Mittwoch der Prozess.

Einar sweden gangs
Nils «Einár» Grönberg.Bild: wikimedia (CC BY 3.0)
STOCKHOLM 20221021 Ljusmanifestation vid Sjöstadskapellet i Hammarby sjöstad till minnet av Nils Einar Grönberg pa arsdagen av mordet. Manifestationen arrangerades av hans flickvän Alexandra Torgrip.  ...
Ein Jahr nach dem Mord am 19-jährigen Rapper: Fans legen Kerzen nieder, 2022.Bild: www.imago-images.de

Die für die Gewalteskalationen verantwortlichen Gangs sind häufig im Drogenmilieu tätig. Besonders viele Taten sollen laut SVT in der Rivalität zweier Banden um den Drogenmarkt in Sundsvall verwurzelt sein.

Doch das Phänomen schlägt auf das ganze Land über: «Ich würde sagen, dass die ‹Gangster-Identität› wie ein Trend ist, der sich überall ausbreitet», sagt der Szenekenner Diamant Salihu bei einer Leserfragenrunde des öffentlich-rechtlichen Senders SVT.

Der Landespolizeichef, Anders Thornberg, sagte während einer Pressekonferenz am Montag, dass die Situation mittlerweile «extrem ernst» sei.

Die Bandenmitglieder seien häufig Teenager aus Einwandererfamilien, so Salihu. Die Hälfte der Verdächtigen sei unter 18, sagte die ermittelnde Kommandantin Hanna Paradis kürzlich. Thornberg spricht sogar von «Kindern». Carin Götblad, Polizeikommissarin der Provinz Stockholm, schildert den Fall eines 13-Jährigen, der sich den Gangs angeboten habe, um «umsonst jemanden zu töten», damit er «jemand werde».

Schwedens Polizeipräsident, Jale Poljarevius, sagte über die Bandenmitglieder bereits vor einem Jahr während einer Podiumsdiskussion an der Universität Uppsala:

«Sie schiessen aufeinander und zielen manchmal so schlecht, dass völlig unschuldige Menschen, sogar Kinder, verletzt oder getötet werden.»
Police stand in the area where a man was found shot dead in Solna outside Stockholm Friday, Jan. 20, 2023. (Christine Olsson//TT News Agency via AP)
Die Polizei an einem Tatort in Solna, an dem ein Mann auf offener Strasse erschossen wurde, 20. Januar 2023.Bild: keystone
Police stand by a crashed car at Gullmarsplan, Stockholm after the police pursued the car on Friday Jan. 20, 2023. The police found weapons in the car and two people were arrested after the crash. (Ch ...
Die Polizei neben einem verunfallten Auto in Stockholm. Im Auto konnten Waffen sichergestellt werden. Es kam zu Verhaftungen, 20. Januar 2023.Bild: keystone

Der Kurs der neuen Regierung

Für die Schweden ist das alles nicht wirklich neu. Denn ihr Land hat schon seit Langem mit einer zunehmenden Waffengewalt zu kämpfen, die grösstenteils mit organisierten Netzwerken und der organisierten Kriminalität zusammenhängt.

Neu ist jedoch die politische Ausrichtung der Regierung, die im September gewählt wurde und für die Eindämmung der Gewalt verantwortlich ist. Doch die Situation scheint ihr zu entgleiten.

Der Ministerpräsident Ulf Kristersson kam nach den Parlamentswahlen im vergangenen September an die Macht, wobei er unter anderem stark von den rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (SD) gestützt wird.

Sowohl Kristerssons Moderate-Partei als auch die SD traten hauptsächlich mit dem Versprechen an, hart gegen die Bandenkriminalität vorzugehen. Unter anderem versprachen sie schärfere Einwanderungskontrollen oder sogar einen «Paradigmenwechsel» in der Strafjustiz – Haftstrafen sollten verlängert werden.

Und dieser Kurs kam so gut an bei den Wählern, dass die populäre Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und ihre Mitte-Links-Minderheitsregierung abgesetzt wurden.

epa10410407 Swedish Prime Minister Ulf Kristersson looks on during the presentation of the programme of activities of the Swedish Presidency, at the European Parliament in Strasbourg, France, 17 Janua ...
Der Ministerpräsident Ulf Kristersson und seine konservative Regierung planten hart durchzugreifen.Bild: keystone

Doch wie die Koalitionsregierung jetzt lernen muss, ist die Umsetzung des Wahlversprechens nicht ganz so einfach, wie mit Versprechen Wahlen zu gewinnen. Denn 112 der 388 Schiessereien, die es 2022 in Schweden gab, haben im September oder später stattgefunden.

Am 20. Dezember präsentierten die Vorsitzenden der drei Regierungsparteien sowie der rechtsextreme Führer der SD, Jimmie Åkesson, eine Reihe von politischen Änderungen, die der Gewalt ein Ende setzen sollen. Unter anderem dürfe die Polizei bald nach Waffen und Sprengstoff suchen, selbst wenn sie kein Fehlverhalten feststellen kann.

Die Polizei kündigte am vergangenen Freitag an, dass sie aufgrund der Gewaltwelle zusätzliche Ressourcen aus anderen Regionen nach Stockholm berufen hätte. Sie betont aber, dass dies bloss einen kurzfristigen Effekt haben werde, denn auf längere Sicht liege der «Schlüssel zur Überwindung der Bandengewalt» darin, der Neurekrutierung ein Ende zu setzen, so Thornberg.

Der brennende Koran und die Gangs

Während die schwedische Polizei sich in Stockholm konzentriert, um gegen die Gang-Gewalt anzukämpfen, ging in Schweden ein heiliges Buch in Flammen auf: Der rechtsextreme Provokateur Rasmus Paludan hatte am Samstag einen Koran in der Nähe der türkischen Botschaft angezündet – die Aktion war von der Polizei bewilligt gewesen.

epa10420408 Leader of the far-right Danish political party Stram Kurs, Rasmus Paludan, burns a copy of the Kuran, while being watched by police officers, as he protests outside the Turkish embassy in  ...
Rasmus Paludan verbrennt einen Koran vor der türkischen Botschaft, 21. Januar 2023.Bild: keystone

Die Aktion stiess in der gesamten muslimischen Welt auf Verständnislosigkeit und löste Proteste aus, bei denen unter anderem die schwedische Flagge verbrannt wurde. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte ebenfalls empört auf den «islamfeindlichen Akt in Stockholm» – und drohte Schweden, das Land beim angestrebten NATO-Beitritt nicht mehr zu unterstützen.

Während sich Ministerpräsident Kristersson bei der muslimischen Gemeinschaft entschuldigte und den Vorfall «beleidigend» nannte, hat der SD-Vorsitzende Åkesson via Facebook noch mehr Öl ins Feuer gegossen, als er auf die Worte des Ministerpräsidenten reagierte:

«Es gibt Grenzen, wie sich eine Regierung ausdrücken sollte, nicht zuletzt, weil Schweden eine nicht zu unterschätzende islamistische Bedrohung im Inland hat.»
epa10426784 Supporters of Pakistan Markazi Muslim League party holds copies of the Koran as they stand on a Swedish flag, during a protest against Sweden, in Peshawar, Pakistan, 24 January 2023. Pakis ...
Muslimische Kinder und Männer demonstrieren gegen die Koranverbrennungen in Schweden, Pakistan, 24. Januar 2023.Bild: keystone

In Schweden selbst gab es in den vergangenen Tagen ebenfalls Ausschreitungen während Gegendemonstrationen, es kam zu Sachbeschädigungen und Angriffen auf die Polizei.

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Paludan im Zentrum einer solchen Situation in Schweden steht. So gab es im April 2022 grosse Ausschreitungen im ganzen Land, nachdem der Hardliner angekündigt hatte, Korane verbrennen zu wollen – und die Polizei seine Veranstaltung schützte.

Damals hiess es, dass die schwedischen Gangs Drahtzieher hinter den Ausschreitungen seien und aus den Tumulten und Gewaltakten gegen die Polizei Profit schlagen würden. Das Hauptziel der Randalierer sei nicht etwa Paludan, sondern die schwedische Polizei sowie die Gesellschaft, so Thornberg.

Police on buses try to break up the crowd as a city bus burns on a street in Malmo, Sweden, Saturday, April 16, 2022. Unrest broke out in southern Sweden late Saturday despite police moving a rally by ...
Brennende Mülltonnen in Malmö im April 2022.Bild: keystone

Die Kritik am Regierungskurs

Dass die neue Regierung die vielschichtige Gewalt im Land in den Griff bekommt, daran zweifeln Kritiker.

Polizeipräsident Poljarevius tut die Versprechungen à la «Verbrechen zu vernichten» als leere Rhetorik ab. Kriminalität habe es immer gegeben und werde es immer geben, meint er. Was es seiner Meinung nach wirklich braucht, wäre eine gesellschaftliche Mobilisierung. Und man benötige mehr Ressourcen, um Einzelpersonen den Ausstieg aus dem kriminellen Leben zu ermöglichen – und nicht zuletzt brauche es eine gezielte Wiederherstellung des Vertrauens in die Behörden.

Die schwedische Journalistin Karin Pettersson analysiert in einem Gastbeitrag im britischen Magazin New Statesman, dass die neue Regierung den Fokus falsch lege – so sei «eine zunehmende Segregation» der «Schlüsselfaktor» für die Gewalt. Doch die Regierung preise als Lösung bloss die Einführung strengerer Anforderungen für die schwedische Staatsbürgerschaft oder das Einschränken des Rechts auf Familienzusammenführung an.

«Dieser kurzsichtige Fokus auf Einwanderung und Kriminalität hat andere, aber ebenso wichtige und problematische grosse Veränderungen in der schwedischen Gesellschaft verdeckt.»

Die Journalistin sieht eine Lösung der Bandengewalt nicht in Ausschaffungen, sondern in einem Bekämpfen der wachsenden Ungleichheit durch etwa die Privatisierung von Schulen oder den Mangel an sozialen Diensten und bezahlbarem Wohnraum.

epa10354661 Sweden's Justice Minister Gunnar Strommer during a European Home Affairs ministers Council meeting in Brussels, Belgium, 08 December 2022. Ministers will discuss the full application  ...
Justizminister Gunnar Strömmer von der Moderate-Partei spricht mittlerweile auch von einem gesellschaftlichen Versagen.Bild: keystone

Die jüngste Umfrage des schwedischen Meinungsforscherinstituts Novus, die Anfang Januar veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Unterstützung für die Regierung stetig abnimmt – während die Opposition zulegt.

Justizminister Gunnar Strömmer von der Moderate-Partei spricht mittlerweile auch von einem gesellschaftlichen und politischen Versagen:

«Unser Umgang mit Jugendlichen, die auf der Kippe stehen, in die Kriminalität abzurutschen, ist nicht auf die Realität ausgelegt. Daher ist eine Verschiebung in diesem System erforderlich.»

Szenekenner Salihu bekräftigt das: Ausschaffen sei keine Lösung, denn die Täter seien ein «Produkt unserer gemeinsamen Gesellschaft».

Und so wurde laut «Politico» neben einem kürzlich Erschossenen die Notiz gefunden:

«Wir haben Sie als Gesellschaft im Stich gelassen.»
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
249 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Schlaf
25.01.2023 13:00registriert Oktober 2019
Wenn ich das so lese, vor allem den Schluss, kommt es mir vor als müsse man ein schlechtes Gewissen haben als Schwede. Die Gesellschaft hat versagt?
Die schwedische Regierung der letzten 30 Jahre hat versagt, auf ganzer Linie.

Ausschaffen ist nicht die Lösung?
Was dann? Ein schlechtes Gewissen haben und dem Treiben weiter zuschauen?
Die Integration ist gescheitert, dass bedeutet für die, die nicht integrierbar sind in ihr gelobtes Land zurück zu gehen.
39962
Melden
Zum Kommentar
avatar
Paedu87
25.01.2023 16:39registriert Juni 2017
Meine Güte ist der Artikel Links angehaucht. In 3 Monaten konnten die ba nicht einmal neue Polizisten ausbilden, geschweige denn Anpassungen am Recht.

Und sorry, nein da braucht es keine Integrationshilfe und Sozialpädagogen etc. Da braucht es Repression und Ausschaffung.
10116
Melden
Zum Kommentar
avatar
Antigone
25.01.2023 15:36registriert November 2018
Die Destabilisierung Europas ist in vollem Gange. Und es wird sich in naher Zukunft auch nicht viel ändern, es ist einfach der Wurm drin.

Bin selber Secondo, aber wenn nur muslimische Männer flüchten, dann müssen schon die Alarmglocken schrillen.

Wieso man diese Typen nicht ausweisen kann, versteh ich nicht. Das wär ein klares Zeichen.
849
Melden
Zum Kommentar
249
AfD-Politiker wegen verbotener SA-Parole vor Gericht

Ein Politiker der rechtspopulistischen AfD in Deutschland soll NS-Vokabular verwendet haben und muss sich deshalb von diesem Donnerstag an vor Gericht verantworten.

Zur Story