Israel
Naher Osten

«Kein Kind, egal ob israelisch oder palästinensisch, sollte Raketeneinschläge erleben müssen»

Kinder im Gazastreifen, die aus einer bombardierten UN-Schule entkommen sind, in der sie Zuflucht gesucht hatten (24.07.2014).
Kinder im Gazastreifen, die aus einer bombardierten UN-Schule entkommen sind, in der sie Zuflucht gesucht hatten (24.07.2014).Bild: FINBARR O'REILLY/REUTERS
Augenzeugenbericht aus Gaza

«Kein Kind, egal ob israelisch oder palästinensisch, sollte Raketeneinschläge erleben müssen»

25.07.2014, 13:5726.07.2014, 12:34
Osama damo, gaza
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Im untersten Stock meines Wohnhauses in Gaza spielen zwei Mädchen um die sechs Jahre lachend auf dem Boden. Sie packen eilig Dinge in ihre Rucksäcke. Ich frage sie, was für ein Spiel sie spielen. Sie erzählen mir, es heisse Evakuierung. 

Mir wird schwer ums Herz. Diese Mädchen sollten die Schrecken einer Evakuierung nicht kennen. Und doch erleben sie gerade ihren dritten bewaffneten Konflikt. Sie hatten gelernt, in einem Konflikt zu überleben, bevor sie überhaupt das Alphabet kannten. 

«Die Kinder hatten gelernt, in einem Konflikt zu überleben, bevor sie überhaupt das Alphabet kannten.» 

Auch ich erlebe bereits die dritte Gewalteskalation in Gaza seit 2008. Und doch ist es dieses Mal ganz anders. Meine Angst ist grösser, die Perspektiven noch düsterer und die Zahl der Toten, insbesondere der getöteten Kinder, steigt viel schneller als bei den letzten Auseinandersetzungen. 

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bild: zvg
Osama Damo @osamadamo arbeitet als Senior Communications Manager für das Kinderhilfswerk Save the Children in Gaza. Die laut eigenen Angaben grösste unabhängige Kinderrechtsorganisation der Welt setzt sich für die Rechte und den Schutz von Kindern ein.

Ich schreibe dies morgens um zwei Uhr in meiner Wohnung. Meine Familie und ich sind seit gestern Morgen um sieben Uhr wach. Es ist unmöglich, zu schlafen. Die Strassen unter uns sind gespenstisch ruhig, doch wir können das ewige Surren der Drohnen draussen nicht ausblenden. Auch nicht die furchteinflössenden Explosionen der Bomben, die in Gebäude rund um uns herum einschlagen. Gelegentlich hören wir Schreie, gemischt mit zerbrechenden Fensterscheiben. Draussen riecht es nach Rauch und Bomben. 

«Es ist unmöglich, zu schlafen. Die Strassen unter uns sind gespenstisch ruhig, doch wir können das ewige Surren der Drohnen draussen nicht ausblenden.»

Die Häuser beben bei jedem Bombeneinschlag. Ich habe meine Wohnung seit Tagen nicht verlassen, ausser um mehr Essen zu holen. Ich fühle mich wie ein Gefangener. Die Lage wird jeden Tag verzweifelter.

Gaza ist eine Stadt voller Wohnblöcke. Wir haben nur drei Stunden täglich Elektrizität. Ohne Strom ist es unmöglich, Wasser nach oben in die Wohnungen zu pumpen. Die Hälfte der Wasserinfrastruktur in Gaza wurde durch Bombeneinschläge zerstört, viele Familien haben kaum noch Trinkwasser. Und das alles in einer Stadt, wo 80 Prozent der Einwohner schon vor dem Konflikt auf humanitäre Hilfe angewiesen waren. 

Mindestens 85 Schulen und 23 medizinische Einrichtungen wurden beschädigt, weil sie sich nahe an Zielen der Bomben befinden. Viele Schulen werden als Evakuierungszentren für Flüchtlingsfamilien benützt. 

«Es klingt makaber, aber das Einzige, was wir tun können, ist Witze über die Situation zu machen.»

Es klingt makaber, aber das Einzige, was wir tun können, ist Witze über die Situation zu machen. Die letzte Gewalteskalation war im Winter 2012. Damals haben wir unseren Kindern erzählt, dass die Bomben Blitze und Donner seien. Aber was können wir ihnen jetzt erzählen? Es ist Sommer. Und darum lachen wir, ohne Freude zu spüren. Und sagen uns, dass es vielleicht an der Zeit wäre, unseren Kindern die Wahrheit zu erzählen. 

Osama Damo berichtet aus Gaza (17.07.2014).Video: Youtube/Save the Children España

Meine Angst wird mit jedem Tag grösser. Wenn Bomben so regelmässig fallen wie der Regen, wie sollen meine Kinder jemals Frieden sehen? Viele Kinder auf beiden Seiten finden dieses Leben normal – und das ist eine riesige Tragödie.

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Für Save the Children sind die Herausforderungen enorm, unsere Mitarbeitenden begeben sich oft selber in Gefahr, um anderen zu helfen. Gestern haben zwei meiner Kollegen ihr Leben riskiert, um medizinische Güter aus einem Lager zu holen und in ein Krankenhaus zu bringen, das dringend Nachschub brauchte.

«Viele Kinder auf beiden Seiten finden dieses Leben normal – und das ist eine riesige Tragödie.»

Es sind heldenhafte Taten wie diese, die Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen am Laufen halten. Krankenhäuser brauchen Zugang zu Ausrüstung und Medizin, um die steigende Anzahl kranker und verletzter Menschen zu behandeln.

Save the Children zielt darauf ab, in den kommenden Tagen 2500 Hygienekits und 2500 Neugeborenenkits zu verteilen. Sobald die Lage es zulässt, werden wir ausserdem kinderfreundliche Räume öffnen. Dort werden Kinder psychologisch betreut und können an einem sicheren Ort vergessen, was sie durchmachen mussten. 

«Kein Kind sollte Raketeneinschläge und Evakuierungen erleben müssen – schon gar nicht drei solche Konflikte noch vor dem siebten Geburtstag, wie die beiden Mädchen unten in meinem Wohnhaus.»

Ganz gleich, was passiert – wir werden weiterhin lebensrettende Hilfe an Familien auf beiden Seiten des Konflikts liefern. Doch letzten Endes muss die Gewalt ein Ende haben. Wir fordern eine sofortige Waffenruhe und ein Ende der Gewalt. Nur ein Abkommen zwischen allen involvierten Parteien kann eine längerfristige Besserung bringen.

Kein Kind, egal ob israelisch oder palästinensisch, sollte Raketeneinschläge, Evakuierungen und einen militärischen Konflikt erleben müssen. Und schon gar nicht drei solche Konflikte noch vor dem siebten Geburtstag, wie die beiden Mädchen unten in meinem Wohnhaus. Die Gewalt muss ein Ende haben – zum Wohl unserer Kinder.

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