Was haben «Barbie» und «Oppenheimer» gemeinsam? Zum Beispiel den gleichen Starttermin. Zum Beispiel ein «bescheidenes» Budget von 100 Millionen Dollar für «Oppenheimer» und 145 Millionen Dollar für «Barbie». Bescheiden im Vergleich zu den Budgets der anderen Sommerblockbuster «Mission Impossible» und «Indiana Jones» mit je 290 Millionen Dollar. «Indiana Jones» gilt bereits als Flop. Wahrscheinlich heisst der nächste Flop «Oppenheimer». Zu lang, zu schwermütig, zu zäh, zu wenig Nolan. Eigentlich eine Tragödie. Denn selten gibt es im Kino derart viele brillante Schauspielleistungen zu sehen. Es müsste dafür Oscar-Nominationen hageln.
Im Grunde erzählen «Barbie» und «Oppenheimer» ähnliche Geschichten, die von Schöpfern und ihren Geschöpfen und wie die Schöpfer fassungslos vor den Folgen dessen stehen, was sie in die Welt gesetzt haben. In «Barbie» hat der Geist von Barbie-Erfinderin Ruth Handler zwei kleine Auftritte, in «Oppenheimer» geht es immerzu um Robert Oppenheimer, den Erfinder der Atombombe.
Selbstverständlich ist Barbie im Vergleich zur Atombombe nichts als ein pinker Kaugummifleck auf der Weltkarte der Erfindungen. Todbringend sind Puppen bekanntlich nur in Horrorfilmen. Die Gefahr der atomaren Katastrophe dagegen ist heute so real wie nie seit Hiroshima und Nagasaki.
Für Christopher Nolan ist Robert Oppenheimer der einflussreichste Mensch und seine Erfindung die bedeutendste der Menschheitsgeschichte, das hat er oft genug in Interviews gesagt. Oppenheimer ist für Nolan also wichtiger als beispielsweise Jesus. Das ist natürlich eine Setzung. Der sich Nolan komplett unterwirft. Er macht sich ganz zum Diener seines Idols. Was dabei herauskommt, ist ein wunderbar gespieltes, sorgfältig gefilmtes, aber doch konventionelles Biopic, dem alles fehlt, was Nolan sonst so an- und aufregend macht, so mindblowing, so überragend.
Bei Nolan werden normalerweise Raum und Zeit ausser Kraft gesetzt und bilden verrückte Schlaufen, irrwitzige Visionen tun sich auf, die man immer ganz knapp nicht mehr versteht, die aber als Kinoerlebnis aussergewöhnlich und unvergesslich sind. Und wenn er einfach mal einen ganz «normalen» Historienfilm wie «Dunkirk» macht, beisst man aus lauter Spannung fast in seinen Sessel. Bei «Oppenheimer» nicht. Da greift die Schläfrigkeit mit unnachgiebigen Fingern nach einem.
Am Stoff liegt es nicht, der Stoff ist – im Genre der «Männliches Genie macht bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung»-Filme – pures, episches Gold. 1942 wird der jüdische Quantenphysiker Robert Oppenheimer zum Leiter des «Manhattan Project» ernannt, einer hochgeheimen Mission, die ihren Sitz in der eilig gebauten Retortenstadt Los Alamos mitten in der Wüste von New Mexico hat. Dort sollen die Amerikaner schneller als die Deutschen eine Atombombe bauen.
Nach drei Jahren mit 4000 Beschäftigten und Kosten von 2 Milliarden Dollar ist es am 16. Juli 1945 so weit, der erfolgreiche Test heisst Trinity, danach befindet sich die Welt im atomaren Zeitalter. Doch Deutschland ist da bereits besiegt. Und Amerika beschliesst, mit Oppenheimers Bombe Japan anzugreifen. Nur drei Wochen nach Trinity wird zuerst Hiroshima, dann Nagasaki bombardiert. Die Folgen kennen wir. Ein Inferno ohnegleichen. Über 200'000 Menschen sterben.
Robert Oppenheimer entwickelt sich in der Nachkriegszeit zunehmend zum Kritiker nuklearer Kriegsführung. Er findet im Leiter der Atomenergiebehörde Lewis Strauss einen erbitterten Feind, der ihm alle Schikanen der McCarthy-Ära angedeihen lässt.
Allein das Manhattan Project mit dem seltsamen Western-Provisorium von Los Alamos wäre ein unglaublich spannender Stoff für einen typischen Nolan-Film gewesen, beklemmend, düster, klandestin, künstlich, gefährlich, grandios grössenwahnsinnig. Und die Frage nach der Bombe und ihren Folgen sowieso. Doch der Film heisst nun mal nicht «The Children of Los Alamos» oder «The Day After», sondern «Oppenheimer». Und Nolan steht zu seinem Mann. Immerzu. Folgt ganz treu dessen Lebensgeschichte. Schneidet einigermassen unmotiviert zwischen drei Zeitebenen (vor Los Alamos, in Los Alamos, nach Los Alamos) hin und her, damit das Publikum wenigstens den Hauch eines Nolanschen Verwirrspiels erlebt.
Die Zeitebene, die unserer am nächsten liegt, quasi die desillusionierte Zeit der Asche nach Hiroshima, ist dabei schwarz-weiss gefilmt. Wow. Crazy, diese Umkehrung! Und manchmal spuken Sterne und komische Stromwellen durch Oppenheimers Kopf und wahnsinnig laute Musik signalisiert, dass er jetzt was Wichtiges denkt. Wahrscheinlich lagen bei 100 Millionen einfach nicht mehr Spezialeffekte drin.
Nebensträngen gibt Nolan keine Chance. Oder Frauen. Zwei säumen im Film Oppenheimers Weg, seine Ehefrau Kitty (die Emily Blunt in ihren raren Szenen mit einer rohen Sprengkraft füllt) und seine Geliebte Jean Tatlock (Florence Pugh, wie immer ein Wunder), eine interessante kommunistische Psychoanalytikerin, die sich das Leben nahm, weil sie mit ihrer sexuellen Identität nicht klarkam. Ihnen gehören in den drei Stunden Hardcore-Männerfilm die winzigsten Brocken der Leinwandpräsenz, doch das ist man sich von Nolan gewohnt.
Für seine Männer hingegen gibt er alles, man muss sich da nur kurz Heath Ledger in «The Dark Knight» in Erinnerung rufen. Auch Cillian Murphy als Oppenheimer erhält hier die Chance seiner Karriere und er ergreift sie wie ein Ertrinkender: Es ist, als hätte der Mann jede Möglichkeit, jede Fatalität und Diabolik der Geschichte, die Nolan nicht zeigt, inhaliert, als würde dies unter der holzschnittartigen Oberfläche seines ungewöhnlichen Gesichts vibrieren, als wäre der Mann selbst eine ungesicherte Bombe. Das ist die Performance des Jahres. Das ist charismatisch, das hat Kraft und trotzdem Subtilität, und das gilt auch für Robert Downey Jr. als Strauss. Und für Matt Damon als militärischen Oberaufseher von Oppenheimer.
Kenneth Brannagh wiederum entpuppt sich als Nolans Allzweckwaffe, er war ein würdiger Kommandant in «Dunkirk», ein russischer Oligarch in «Tenet», jetzt spielt er den dänischen Physiker Niels Bohr. Präsident Truman mit Gary Oldman zu besetzen, ist ein kleiner Geniestreich. Und dann gibt es da noch den 81-jährigen Schotten Tom Conti, kein grosser Name, doch er ist seit Ende der 50er-Jahre im Hollywood-Geschäft und spielt jetzt für Nolan Albert Einstein: Spielt mit einer enorm beeindruckenden Beiläufigkeit und Bescheidenheit, spielt einen ganz nahbaren, normalen Mann. Ein Geschenk von einem Schauspieler.
Vielleicht wollte Nolan ja genau das zeigen, dass er auch das Gegenteil von monumentaler Trick-Architekur und genialischer Fantastik kann. Dass er all das zugunsten von Gesichtern, minutiösen Regungen und pausenlosem Reden zurücknehmen kann. Reden über Männer, Waffen, Krieg, Loyalität und Schuld. Heldenreden eben. Und im letzten Drittel des Films ist es genau dieses Reden, das für die Protagonisten schlimmer ist als die Bombe selbst, und da, ganz ehrlich, bin ich eingeschlafen. Andere werden gerade das toll finden und «radikal» nennen, der Lieblings-Euphemismus für langweilig.
Eine Frau hat einen Film über eine Puppe gedreht. Ein Mann hat einen Film über den Erfinder der Atombombe gedreht. Ab morgen stehen sie sich gegenüber. Gut, dass der Film der Frau nicht so klischiert herausgekommen ist, wie er klingt. Und gut möglich, dass es in den kommenden Wochen an den Kinokassen ein bisschen aussehen wird wie in einem Horrorfilm: Die Puppe macht ihrem Kontrahenten den Garaus.
«Oppenheimer» läuft ab dem 20. Juli im Kino.
Kubakrise?