Das Verrückte an Conchita Wurst ist ja, dass es die eigentlich gar nicht gibt. Weil sie eine Kunstfigur ist. Eine Verkleidung. Der Avatar, das Second Life eines 26-jährigen Mannes namens Tom Neuwirth. Eine Zauberei, ein Täuschungsmanöver. Conchita Wurst ist reine Fiktion und gerade deshalb so wichtig geworden. Weil eine Fiktion perfekter sein kann als das echte Leben. Weil eine Fiktion mühelos alles sein kann: ganz Mann, ganz Frau, ganz Freak.
Es war ja nicht besonders überraschend, dass Conchita den letztjährigen ESC gewann. Weit überraschender war die Welle danach: die Zustimmung, die Begeisterung, die puren Glücksgefühle, die ihre Präsenz überall entfachte. Bei der LGBT-Community sowieso, aber auch bei der Hausfrau aus der Steiermark oder dem Appenzell und selbst bei konservativen Politikern.
Letzteres weiss jedenfalls Daniel Bachmann, denn der war dabei, als Conchita Wurst bei einem Empfang der Wiener Regierung lauter weiche Knie verursachte mit ihrem berühmten Zauber. Der Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Daniel Bachmann aus dem Schwarzwald ist der Mann, der Conchita neben Tom seine Stimme gibt, ihre Geisterstimme. Er ist Conchitas Ghostwriter.
In einem tripolaren Unternehmen haben nun der Tom, die Conchita und der Daniel die Autobiografie «Ich, Conchita: We are unstoppable» verfasst. Mit einem Vorwort von Jean Paul Gaultier und einem ersten Kapitel, das mit den Worten beginnt: «Mein Leben ist ein Musical, sage ich oft. Nicht nur, weil es begann, wie Musicals gerne beginnen, nämlich in der Provinz.» Im idyllischen Salzkammergut. Dort, wo auch das Restaurant-Musical «Im weissen Rössl» spielt.
Und als wär’s das Rössl führen auch Toms Eltern einen Gasthof. Und während unten die Stammtischler lustig sind, übt Tom im Dachstock Gesang oder spielt mit alten Hochzeitskleidern. Und wird in der Schule bald mit aller Treffsicherheit der Jugend als «schwul» verspottet. Lang vor seinem Coming-out. Es folgen die Lehrjahre an der Modeschule in Graz, wo das Internat auch keine Lösung in Sachen Homophobie ist, und wenn Tom am Wochenende nach Bad Mitterndorf zurückkehrt, warten seine Quälgeister meist schon am Bahnhof auf ihn. Er rettet sich in erste Gesangsauftritte und schneidert Hochzeitskleider für die Dorf-Beauties.
Seine Eltern unterstützen ihn, sind aber auch hilflos und grenzenlos überfordert, als sie aus einem Zeitungs-Interview erfahren, dass ihr 17-jähriger Sohn schwul ist. Weil er sich nicht getraute, es ihnen direkt zu sagen und lieber den Umweg über die grosse, urbane Öffentlichkeit nahm.
Die heissgeliebte Grossmutter vermittelt. Die Grossmutter, die während des Kriegs als «Ferienkind» nach Portugal verschickt worden war und deren Weisheit seither weit über Österreich hinausreicht: «Vom Meer kommt immer was Neues», sagt sie zum Beispiel, «dort lernst du schnell, dass das Fremde nicht zwingend etwas Böses ist.» Tom hat Angst, dass die Leute vom Land jetzt den Gasthof der Eltern meiden würden.
Es kommen die Castingshow «Starmania» und Wien, und in Wien die burleske Subkultur, in der sich Tom als Conchita Nacht für Nacht neu erfindet und findet und glücklich wird. Den Rest kennen wir. Conchita, die ESC-Siegerin. Conchita, die ernsthafte neue LGBT-Polit-Aktivistin. Conchita auf den Laufstegen von Paris. Alles ist schön, wundervoll, Conchita voller Güte, Gnaden, Dankbarkeit. Ein fabelhaftes Fabelwesen. Allerdings ist dieser Rest des Buches weniger interessant als Kindheit und Jugend, wo versucht wird, die ganze Qual einer queeren Existenz auf dem Dorf mit ein bisschen nostalgischem Zuckerguss zu verklären. Das ist schon recht herzzerreissend.
Wen hat Daniel Bachmann, der Ghostwriter, denn nun eigentlich getroffen? Conchita oder Tom? «Beide», sagt Daniel. Aber meistens Tom. In Wien, in einem nicht weiter definierten «Nest», das sie gebraucht hätten, um zwischen den tausend Terminen der Conchita einen vollkommen leeren Raum für konzentrierte Gespräche zu schaffen. Und eine Situation, die stark «an eine Psychoanalyse» erinnern würde.
Tom redet und redet, Daniel hört zu und streut ab und zu einen Happen ins Gespräch, den Tom dann aufnimmt oder liegen lässt. Die Happen gehen in Richtung Geschichte, Mythologie, Politik, Europa. Und zu Daniels Überraschung nimmt Tom sie alle auf, kennt sich aus, macht was draus, und als Leser schaut man dann ein bisschen blöd aus der Wäsche beim Lesen und denkt sich: Okay, hab ich unterschätzt.
Oder hat Daniel Tom/Conchita etwa irgendwas in den Mund gelegt und schöngeschrieben? «Nein, das ist alles von ihm.» Und die Sprache? Die manchmal klingt, als sei man in einem österreichischen Heimatroman aus den 50er-Jahren? Ist das die Sprache von Daniel, der sonst so gerne Autoren wie Chuck Palahniuk («Fight Club») liest?
«Ich versuch immer, die Sprache der Leute zu finden, über die ich schreibe. Dazu lass ich die selbst ein paar Seiten schreiben und ahme sie nach.» Die paar Seiten kommen nicht im Buch vor, die waren bloss eine Übung. Auch ein paar andere Dinge kommen nicht vor: Sexualität und Liebe zum Beispiel. Darüber wollte Conchita bewusst nicht sprechen. Schade.
Täuscht der Eindruck, oder ist dieses Buch das Pamphlet einer Person, die für ihre Zukunft nicht nur das Showbiz im Kopf hat, sondern ganz klar die Politik? Nein, sagt Daniel Bachmann, der bereits an einer neuen Promi-Autobiografie sitzt, der Eindruck täuscht nicht. Conchita will weiter. Immer weiter. Vielleicht gibts schon in ein paar Jahren die Fortschreibung ihrer Autobiografie. Wer weiss, was sie dann gerade ist: Die Frau von Prinz Harry, Europapolitikerin oder Päpstin. Die Stoppschilder des Lebens und der Konvention haben sie bis jetzt noch keine Sekunde lang aufgehalten. Wahrscheinlich werden wir uns wundern.
Ich, Conchita. Verlag LangenMüller, München 2015. 192 S., viele Bilder, ca. 30 Fr.