Jede fünfte Frau in der Schweiz hat schon sexuelle Gewalt erlebt. Anzeige erstatten nur die wenigsten. Nora Scheidegger, Juristin und Expertin für das Schweizer Sexualstrafrecht an der Universität Bern, sieht ein zentrales Problem in der Gesetzgebung. Im intimsten Bereich werde der Wille einer Person missachtet.
Wieso ist das Sexualstrafrecht in der Schweiz aus Ihrer Sicht zu lasch?
Nora Scheidegger: Lasch ist das falsche Wort. Das Sexualstrafrecht ist heute schlicht unvollständig. Es ist veraltet und muss grundlegend reformiert werden. Das Problem ist, dass nicht alle sexuelle Handlungen ohne Einwilligung angemessen bestraft werden können. Um als Vergewaltigung zu gelten, muss immer noch zusätzlich eine Nötigung vorliegen. Dabei sollte die fehlende Einwilligung entscheidend sein.
Ihnen geht es also um ein gesetzliches «Nein heisst Nein»?
Es ist eher ein «Ja heisst Ja», das wir fordern. Das wäre zeitgemäss.
Zurzeit läuft die Revision des Strafrechts. Warum haben Sie Ihre Forderung nicht früher eingebracht?
Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Ich habe bereits Anfang 2016 darauf aufmerksam gemacht, dass wir etwas ändern müssen. Seit meine Dissertation zum Thema vergangenen November erschienen ist, habe ich an verschiedenen Orten meine Vorschläge vorgetragen. Auch im Parlament. Daraufhin wurde eine Interpellation eingereicht. Die Antwort des Bundesrates war allerdings nicht sehr ermutigend.
Schweden hat 2018 das «Ja heisst Ja»-Konzept in Kraft gesetzt. Allerdings war die Gesetzesänderung sehr umstritten. Kritiker meinten, das Land rücke jeglichen Sex in die Nähe eines Verbrechens und zementiere überholte Geschlechtermodelle.
Ein Paradigmenwechsel löst oft Unsicherheiten aus. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Es gibt aber auch positive Beispiele wie Island. Auch dort wurde das Gesetz angepasst. Es ging einstimmig durchs Parlament, und die Reform in Deutschland hatte ebenfalls grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Das erhoffe ich mir auch für die Schweiz.
Ein Kritikpunkt bleibt die Sorge vor falschen Anschuldigungen.
Wir wollen die Unschuldsvermutung ja nicht ausser Kraft setzen. Der Punkt ist: Wenn man jemanden fälschlicherweise einer Vergewaltigung beschuldigen will, ist das auch heute möglich. Das ist verwerflich und wird bestraft. Die Vorwürfe werden immer sehr sorgfältig abgeklärt. Zudem kommen Falschanschuldigungen bei Sexualdelikten nicht häufiger vor als bei anderen Tatbeständen. Ich denke nicht, dass es zu mehr falschen Anschuldigungen kommt, wenn die Einwilligung und nicht die Nötigung in den Vordergrund rückt.
Nur 10 Prozent der Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, wenden sich an die Polizei. Wieso ist das im Zeitalter von MeToo noch immer der Fall?
Die Gründe sind sehr individuell. Oft ist es Scham oder die Angst der Opfer, dass man ihnen nicht glaubt. Ein Prozess ist wirklich kein Spaziergang. Einige verzichten auf eine Anzeige, weil sie glauben, den Gang vor Gericht psychisch nicht durchstehen zu können.
Das Gesetz ist das eine. Wie steht es um die Sensibilisierung in der Erziehung?
Die gehört natürlich dazu. Egal ob zu Hause oder in der Schule: Es ist wichtig, Jugendlichen beizubringen, dass ein «Nein» wirklich «Nein» bedeutet und respektiert werden muss. Gerade deshalb ist es wichtig, dass dies auch im Strafrecht verankert wird.
Ihr Kollege, Strafrechtsprofessor Martino Mona, bezeichnet das heutige Sexualstrafrecht als täterfreundlich. Junge Männer würden die Gesetzgebung ausnützen. Sind junge Männer tatsächlich so berechnend?
Das ist schwierig zu beurteilen. Ein Teil der Männer, die Frauen sexuell belästigen oder ihnen Gewalt antun, sind wahrscheinlich schlicht rücksichtlos und denken nicht an die Konsequenzen. Die Gesellschaft muss nun aber klar und deutlich machen, dass ein solches Verhalten nicht toleriert wird.
Bei so einer Anschuldigung ist der Mann so gut wie erledigt. Egal ob falsch oder nicht.
Was soviel heisst, wer nicht beweisen kann, dass die Frau ja gesagt hat, ist per se mal schuldig.