Sexualkunde-Unterricht auf Primarstufe ist im Kanton Zürich seit sechs Jahren Pflicht. Dass dies nicht allen gefällt, musste ein Lehrer auf die harte Tour lernen, wie der Zürcher Oberländer / Zueriost aufdeckte.
Wertkonservative Eltern liessen nicht locker, bis die Primarschule Obermatt in Pfäffikon ZH den homosexuellen Lehrer entliess. watson übernimmt für ihn das Pseudonym Daniel Brunner.
Doch von vorne:
Daniel Brunner* startet mit seiner 5. Klasse ins neue Schuljahr. Zusammen mit der Lehrerin der 6. Klasse bereitet er den Sexualkunde-Unterricht vor. In einer ähnlichen Form führten sie ihn bereits drei Jahre zuvor durch, thematisiert werden Freundschaft, Liebe und Sexualität. Der Sexualkunde-Unterricht umfasst vier Lektionen pro Woche – der Lehrplan 21 schreibt konkrete Basiskompetenzen vor, wie diese vermittelt werden, wird jedoch der Lehrperson überlassen.
Brunner findet es wichtig, dass Dinge ausgesprochen werden können. Die Kinder sollen sich sicher fühlen, niemand darf ausgelacht oder ausgegrenzt werden. Was besprochen wird, darf nicht auf den Pausenplatz getragen werden.
Noch vor den Herbstferien meldet sich erstmals ein besorgtes Elternpaar mit starkem freikirchlich-konservativem Hintergrund. Brunner lädt sie zu einem zweistündigen Elterngespräch und möchte ihre Ängste zerstreuen. Er hat den Eindruck, verstanden worden zu sein – dem ist jedoch nicht so, wie sich bald herausstellt.
Ein homosexueller Primarlehrer gerät in Pfäffikon ins Visier von wertkonservativen Eltern. Die Schulführung stellt sich zuerst hinter ihn, dann forciert sie seinen Abgang. https://t.co/2DcUdguYyF
— tagesanzeiger (@tagesanzeiger) April 18, 2024
Eine Sexualkunde-Prüfung steht an. Brunner gibt die Lernziele mit nach Hause, diese lösen bei mehreren Familien Empörung aus. Wenige Tage später stehen drei Mütter vor dem Klassenzimmer und fordern die Entlassung ihrer Kinder aus dem Unterricht. Alle haben ein christliches Weltbild.
Daniel Brunner hat nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet und verweist die Mütter an die Schulleitung. Das folgende Gespräch ist laut und hitzig, wie der Lehrer erfährt. Ausserdem sei dabei auch seine Homosexualität thematisiert worden. Doch das ist erst der Anfang. In den darauffolgenden Tagen kommt es zu zwei ähnlichen Vorfällen.
Brunner sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Kompetenzen zu überschreiten und den Inhalt des Sexualkunde-Unterrichts zu verheimlichen. Einer Mutter gestattet er nicht, bei den Lektionen dabei zu sein.
Der beschuldigte Lehrer wird beim beanstandeten Unterricht immer von einer Schulassistenz begleitet und legt gegenüber der Schulleitung offen, was er geplant hat und welches Material er verwendet.
Die Schulleitung schreibt einen Elternbrief, der dem «Tages-Anzeiger» vorliegt. Darin weist sie die Vorwürfe gegen Brunner zurück und schreibt, er habe den Unterricht «altersgerecht umgesetzt» und die pädagogische Aufgabe «voll und ganz» erfüllt. Die Schulleitung wird deutlich: Bestimmte Aussagen der Eltern würden an «üble Nachrede» grenzen. Ausserdem erinnert sie an die Schulpflicht.
Die aufgebrachten Eltern lassen sich davon nicht irritieren. Sie schliessen sich mit drei muslimischen Elternpaaren zusammen und schreiben der Schulpflege und dem Leiter Bildung. Daniel Brunner darf einen Blick auf das 13-seitige Schreiben werfen. Darin wird ihm u.a. vorgeworfen, er habe die Kinder in Form einer Hausaufgabe beauftragt, zuhause zu masturbieren. Weiter soll er ihnen vorgeschrieben haben, nicht über den Unterrichtsinhalt zu sprechen.
Die Eltern stützen sich in dem Schreiben auf angebliche Aussagen von Kindern – auch solche von ausserhalb des Unterrichts und aus dem Vorjahr. Brunner wehrt sich gegenüber seinen Vorgesetzten. Er spürt, dass es nicht mehr um den eigentlichen Unterricht, sondern um seine Person geht.
Die Schulleitung wendet sich schriftlich an die Eltern und informiert diese über eine geplante Aussprache zwischen der Schulleitung, dem Leiter Bildung und den Eltern. Das Dokument liegt dem «Tages-Anzeiger» vor. Sie schreiben weiter, Brunner werde aufgrund einer Fortbildung im Januar von einer PH-Studentin vertreten.
Die Situation stellt eine schwere Belastung für Brunners Psyche dar. Er hofft jedoch auf weitere Unterstützung – vergeblich, wie sich noch zeigen wird.
Zwei Tage vor seiner geplanten Rückkehr muss Daniel Brunner zu einem Gespräch mit der Schulleitung und dem Leiter Bildung antraben. Diese teilen ihm mit, dass es weitere Gespräche mit den besorgten Eltern gegeben hat.
Ihm wird nun vorgeworfen, den Kindern zu wenig Wertschätzung entgegengebracht zu haben. Die Eltern würden ihn als eine Gefahr für ihr Weltbild sehen. Bis zu den Sportferien solle er bei einem Projekt der Schulverwaltung mitarbeiten und das Unterrichten vorerst sein lassen.
Der beschuldigte Lehrer realisiert, dass er nicht mehr auf seine Vorgesetzten zählen kann. Nach der Sitzung geht er in sein Klassenzimmer und weint.
Daniel Brunner beschliesst, eine Auszeit zu nehmen, und lässt sich für zwei Wochen krankschreiben. Er kontaktiert die Beratungsstelle des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV). Diese vermittelt ihm einen Anwalt und stellt sich für die Mediation in der Kommunikation mit der Schule zur Verfügung.
Das Lehrerkollegium der Primarschule in Pfäffikon ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziell über die Geschehnisse informiert worden. Intern wird jedoch darüber gesprochen.
Die grosse Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer schickt einen Brief an die Schulleitung, der dem «Tages-Anzeiger» ebenfalls vorliegt. Darin schreiben sie, Brunner werde wegen seiner Homosexualität diskriminiert. Sie würden sich zu 100 % auf seine Seite stellen und fordern sichtbare Unterstützung für ihren Kollegen.
Sie schliessen den Brief mit:
Unabhängig vom Engagement der Lehrerinnen und Lehrer stellen sich nun Eltern auf die Seite Brunners. Sie beklagen, dass ihre Kinder auf einen beliebten Lehrer verzichten müssen und nun von Stellvertretungen unterrichtet werden. Ihre Kinder bestätigen, dass an den Vorwürfen bezüglich des Sexualkunde-Unterrichts nichts dran sei.
Ein Elternpaar äussert in einem Gespräch mit der Schulleitung den Verdacht, Daniel Brunner sei wegen seiner Homosexualität in den Fokus der wertkonservativen Eltern geraten. Dieser Verdacht wird im Rahmen des Gesprächs bestätigt. Die Eltern haben den Eindruck, die Schulleitung sei überfordert.
Das Elternpaar kontaktiert auch den Leiter Bildung. In einem Telefonat haben sie den Eindruck, dessen Haltung sei defensiv. Sie schreiben später auch dem Schulpräsidenten Hanspeter Hugentobler, der Kantonsrat der EVP ist.
Um 22.49 Uhr erreicht Daniel Brunner während seiner Krankschreibung ein Mail der Schulleitung. Auch dieses liegt dem «Tages-Anzeiger» vor. Darin heisst es, «die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit» sei nicht mehr gegeben. Man sehe sich gezwungen, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, gerne im gegenseitigen Einvernehmen.
Die Schulleitung schreibt:
Man werde am Folgetag das Lehrerteam mündlich und drei Tage später die Eltern schriftlich informieren.
Diese Ankündigung zieht die Schulleitung auch durch, obwohl sich Brunner nicht dazu äussern konnte. In einem weiteren Brief schreibt sie, der beschuldigte Lehrer wäre auch bereit, nach den Sportferien zurückzukommen und auf Ende Schuljahr zu kündigen. Diesen Vorschlag wolle man prüfen, doch man schätze seine Unterrichtstätigkeit in der belasteten Situation als kritisch ein.
Daniel Brunners Anwalt schaltet sich ein. Er sieht verschiedene Rechtsverletzungen: Rufschädigung, Verweigerung des rechtlichen Gehörs, Verletzung des Personalrechts.
Die Schulleitung informiert die Eltern in einem weiteren Schreiben darüber, dass eine Rückkehr Brunners nicht realistisch sei, da dieser den Dialog mit der Schulführung aktuell nicht führe. Sie schreibt weiter:
Brunner sieht nun keine Zukunft mehr. Er lässt seinen Anwalt die Vertragsauflösung verhandeln, die Modalitäten sind für ihn vorteilhaft. Der entlassene Lehrer verzichtet auf eine Klage.
Die Schulleitung informiert die Eltern in einem Brief über die definitive Trennung. Der Inhalt des Schreibens steht im Widerspruch zur vorhergehenden internen Kommunikation:
Im Rahmen der Recherche konfrontierte der «Tages-Anzeiger» die Schule mit einem Fragenkatalog. Die Schulführung wollte sich jedoch nicht äussern, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, wie Schulpräsident Hanspeter Hugentobler schrieb. Man bedauere die Situation.
Weiter tue es der Schule leid, dass die Kommunikation widersprüchlich war:
Doch hat die Schule den Lehrer ausreichend vor den Angriffen der Eltern geschützt? Hugentobler meint dazu:
So haben die religiösen Fundis und ihre untätigen Komplizen in der Schulleitung gewonnen, auf Kosten der Steuerzahler und natürlich des Lehrers.
Ich hoffe, der Kanton schreitet ein. Und hoffentlich meiden Lehrer auf Stellensuche die Schule.
Das Kündigungsmail (Dialog verweigert) und die Elterninfo (stets dialogbereit) sind ja sowas von heuchlerisch.
Es ist 2024 herrgott(!) nochmals und es gibt immer noch solche Sachen in der Schweiz.
Hier hätte man den Angriff nach vorne und Eltern und Schulleitung anklagen sollen… Solche Persönlichkeitsverletzungen dürfen in der heutigen Zeit nicht geduldet werden.
Aber ich verstehe, wenn man irgendwann keine Kraft mehr hat… :-(