Wenn eine Mannschaft in Unterzahl spielt, dann schickt der Coach die disziplinierten Spieler aufs Eis, die sich an taktische Vorgaben halten. Die einzige Ausnahme: Tanner Richard. Er ist ein Instinktspieler ohne taktisches Gewissen. Und doch einer der besten in Unterzahl. Erstens gewinnt er in Schlüsselmomenten die Anspiele in der eigenen Zone und zweitens verwirrt er immer wieder den Gegner durch seine Unberechenbarkeit.
Immer mehr zeichnet sich ab: Dieser Final ist im 4. Spiel entschieden worden. Die Bieler gewinnen in Genf die dritte Partie in der Verlängerung 2:1, führen im Final 2:1 und können im vierten Finalspiel auf eigenem Eis auf 3:1 erhöhen. Sie sind auf bestem Weg zum dritten Sieg. Dann kippt die Partie in der 23. Minute: Tanner Richard knöpft im Boxplay in der gegnerischen Zone den Bielern den Puck ab und ermöglicht Daniel Winnik in Unterzahl das 2:1. Von diesem Schock haben sich die Bieler bisher nicht mehr erholt: Sie verlieren 2:3 und waren am letzten Samstag in Genf chancenlos und gingen 1:7 unter. Servette braucht nur noch einen Sieg zum Titel.
Tanner Richard taucht dort auf, wo ihn der Gegner nicht erwartet. Einer seiner Trainer hat einmal über ihn gesagt, er sei «puckgesteuert». Er werde magisch vom Puck angezogen. Er sei deshalb immer dort, wo etwas passiere. Ein Instinktspieler eben. Er war im erwähnten vierten Spiel in der 23. Minute im Boxplay dort, wo er eigentlich nicht sein sollte – rund ums Tor der Bieler –, und wo ihn die Bieler nicht erwarteten.
Der Sohn der ZSC- und Rappi-Legende Mike Richard mahnt ein wenig an Chris DiDomenico. Nicht so wild, nicht so eigensinnig und auch nicht so talentiert. Aber auch einer, der sich nicht in eine taktische oder sonstige Schablone pressen lässt. Ein Vorkämpfer, der manchmal das Herz auf der Zunge trägt. Er gehört zu den schlimmsten verbalen Provokateuren der Liga («Trash Talk»).
In der NHL gibt es die Auszeichnung für den wertvollsten Spieler (MVP) der Playoffs. Nicht zwingend geht die Auszeichnung an einen Spieler aus dem Siegerteam. Noch selten hatten wir einen Final mit so vielen MVP-Kandidaten. Bei Biel und bei Servette. Selbst im Rahmen eines vierwöchigen Seminars wäre keine Einigung zu erzielen. Nur eines ist klar: Tanner Richard hätte diese Auszeichnung verdient. Wegen seiner Wirkung auf dem Eis und in der Kabine. Weil er mit Aktionen auf eigene Faust und Verantwortung den Lauf eines Spiels zu verändern vermag.
Eigentlich müssten Verbandssportdirektor Lars Weibel und Nationaltrainer Patrick Fischer den Hockeygöttern auf den Knien für einen Spieler wie Tanner Richard danken. Zum ersten Mal seit 2019 (Lino Martschini) steht der Playoff-Topskorer für die WM zur Verfügung. Nacheinander hat der kanadisch-schweizerische Doppelbürger seine internationale Tauglichkeit bei drei Junioren-Titelkämpfen (eine U18, zwei U20-WM) zwischen 2011 und 2013 unter Beweis gestellt.
Aber Patrick Fischer hat ihn nur ein einziges Mal für die WM aufgeboten: 2017 nach Paris und Köln (7 Spiele/4 Punkte). Seither lediglich für acht Operetten-Länderspiele. Tanner Richard hat für die WM nie abgesagt. Wenn er auf eine entsprechende Frage Patrick Fischer rühmt («Ich mache das Aufgebot nicht. Fischi weiss, was er tut. Er ist ein guter Coach und muss hinter seinen Nominationen stehen»), dann ortet nur ein Schelm Sarkasmus in dieser Aussage. Keine Frage: Servettes Leitwolf würde mit Freude und Stolz bei der WM spielen.
Die Frage geht an den Nationaltrainer: Ist Tanner Richard erstmals seit 2017 ein Thema für die WM? Patrick Fischer sagt: «Wir freuen uns, dass er so gut spielt. Er ist ein Thema für uns.» Schiebt aber einen Satz nach:
Einer, der seinen Namen nicht lesen möchte und sowohl Tanner Richard als auch Patrick Fischer gut kennt und beide sehr schätzt, erklärt es so: «Patrick Fischer hat seine klare Linie. Das ist auch richtig so. Aber Tanner Richard mag sich nicht immer unterordnen.»
Ein wenig mahnt diese Angelegenheit an die legendäre «Feindschaft» zwischen Nationaltrainer Ralph Krueger und Reto von Arx. Kurz nach dem olympischen Turnier von 2002 – da war er mit 26 im besten Hockey-Alter – trat er aus der Nationalmannschaft zurück. Weil er mit Ralph Krueger übers Kreuz lag. Wobei Reto von Arx damals schon noch eine Schuhnummer grösser war als heute Tanner Richard.
Trotzdem und keine Frage: Wenn Tanner Richard sein bestes Hockey spielt wie in diesen Tagen, dann darf ein Nationaltrainer beim WM-Aufgebot auf ihn eigentlich nicht verzichten. Wer Servette als bester Playoff-Skorer so nahe an den ersten Titelgewinn der Geschichte herangeführt hat, kann auch für die Schweiz bei der WM etwas bewegen. Wir brauchen bei der WM Spieler, die etwas bewegen. Seit der Silber-WM von 2018 ist die Schweiz nicht mehr über den Viertelfinal hinausgekommen.
Die Absagen von Andrighetto, Hofmann und Martschini wiegen bereits schwer, falls kein NHL-Stürmer dazustossen kann. In den letzten Jahren wurde die Offensive von den NHL-Stürmern getragen. Aus diesem Grund, sollte man dieses Jahr den Playofftopscorer meiner Meinung nach erst Recht nicht zu Hause lassen....
Genau solche Charakterspieler haben wir in der Nationalmannschaft neben Scherwey viel zu wenig (auch den kann ich während der Saison nicht ausstehen). Aber wenn man gegen die grossen bestehen will brauchen wir etwas meh dräck.
Tanner soll sich doch bitte seine Scorerpunkte für die WM aufsparen