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Ein Jahr nach dem Terror in Boston: Viele Fragen bleiben offen

Ein Jahr nach dem Terror in Boston: Viele Fragen bleiben offen

Am 15. April 2013 um 14.49 Uhr explodierten die Bomben.Bild: Reuters
Anschlag auf Marathon
Der Bombenanschlag auf den Boston Marathon erschütterte vor einem Jahr die USA. Nun findet der Lauf erneut statt, doch es bleiben Ungereimtheiten.
15.04.2014, 16:2316.04.2014, 06:43
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Boston zeigt Stärke: «Boston Strong» lautet der Slogan, mit dem die US-Ostküstenmetropole auf den Marathon-Terror vor genau einem Jahr reagiert hat. Am Ostermontag ist es wieder so weit: Zum 118. Mal findet der traditionsreichste Stadtmarathon der Welt statt. Rund 36'000 Läuferinnen und Läufer werden am Start sein – eine Rekordzahl. Darunter sind auch 9000, die im letzten Jahr den Lauf abbrechen mussten. «Wir werden laufen», heisst das trotzige Motto (siehe Video).

Video: YouTube/jj Miller

Zuvor findet heute eine Gedenkfeier in Anwesenheit von US-Vizepräsident Joe Biden statt. Am 15. April 2013 um 14.49 Uhr Ortszeit waren innerhalb von zwölf Sekunden zwei entlang der Zielgerade platzierte Bomben explodiert. Sie rissen drei Menschen in den Tod, darunter einen achtjährigen Jungen, mehr als 260 wurden verletzt. Mindestens 16 Verletzten mussten Gliedmassen amputiert werden. Als Bomben wurden präparierte Dampfkochtöpfe verwendet, die mit Eisenkugeln und Nägeln gefüllt waren, um schlimme Verletzungen zu verursachen.

Der Tatort vor einem Jahr (oben) und heute.Bild: AP/MetroWest Daily News

Es war der erste schwere Terroranschlag in den USA seit dem 11. September 2001. Die mutmasslichen Täter wurden vier Tage später gestellt. Es handelte sich um zwei Brüder tschetschenischer Abstammung: Den 26-jährigen Tamerlan und den 19-jährigen Dschochar Zarnajew. Tamerlan kam bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben, Dschochar wurde schwer verletzt festgenommen. Obwohl die Schuldfrage weitgehend geklärt scheint, bleiben einige Fragen offen, die der Prozess gegen Dschochar Zarnajew klären könnte – oder auch nicht:

Wie wurden die Brüder zu Terroristen?

Der Vater von Tamerlan und Dschochar Zarnajew stammt aus der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien. Die Brüder wuchsen in Kirgistan auf. 2002 reiste die Familie in die USA, wo sie Asyl beantragte und fünf Jahre später die Aufenthaltsbewilligung erhielt. Tamerlan brach ein Studium ab, um eine Karriere als Boxer einzuschlagen. Er heiratete eine Amerikanerin, die zum Islam konvertierte, und hatte mit ihr eine heute dreijährige Tochter. Um 2010 begann er sich religiös zu radikalisieren. Sein Bruder Dschochar erhielt 2012 die US-Staatsbürgerschaft. Er bezeichnete sich nach seiner Verhaftung als Mitläufer. Tamerlan Zarnajew gilt als Anstifter der Anschläge, doch die genauen Umstände bleiben im Dunkeln.

Warum wurden sie nicht entdeckt?

Russische Regierungsvertreter warnten das FBI im Jahr 2011, dass Tamerlan Zarnajew «Anhänger des radikalen Islam» sei und sich seit 2010 «drastisch verändert» habe. Das FBI befragte darauf ihn und die Familie, liess es aber dabei bewenden. Allerdings wurde Tamerlan wegen des Verhörs die Einbürgerung verweigert. Anfang 2012 reiste er nach Dagestan, die Nachbarregion von Tschetschenien, wo er Kontakt zu radikalen Predigern hatte. 

Die mutmasslichen Attentäter Tamerlan (l.) und Dschochar Zarnajew.
Die mutmasslichen Attentäter Tamerlan (l.) und Dschochar Zarnajew.Bild: AP/Lowell Sun and FBI

Im Juli 2012 konnte er ungestört in die USA zurückreisen. Den Behörden entging auch, dass er im Oktober 2012 einen YouTube-Kanal mit dschihadistischen Videos aufschaltete. Ein letzte Woche veröffentlichter Bericht des US-Justizministeriums kritisierte die Bundespolizei für dieses Versäumnis, ebenso die Tatsache, dass das FBI seine Informationen nicht an die CIA weitergab.

Hat Russland Informationen verheimlicht?

Ein Bericht der «New York Times» sorgte letzte Woche für Aufsehen: Demnach informierten die Russen das FBI zwar über Tamerlan Zarnajews Radikalisierung. Doch danach seien zahlreiche FBI-Anfragen nach zusätzlichen Informationen unbeantwortet geblieben. Erst nach dem Attentat auf den Marathon habe Russland den Amerikanern weitere Details genannt. So etwa über ein abgehörtes Telefongespräch Zarnajews mit seiner Mutter, in dem sie über den Dschihad sprachen. «Die Ermittler stellten fest, dass die Russen nicht all die Informationen zur Verfügung stellten, die sie damals hatten», zitierte die Zeitung einen hochrangigen Vertreter der US-Regierung.

War ein weiterer Anschlag geplant?

Bis heute ist unklar, warum die Brüder nach dem Anschlag nicht flüchteten. Am 18. April konnten sie anhand einer vom FBI veröffentlichten Aufnahme einer Überwachungskamera identifiziert werden. Darauf kaperten Tamerlan und Dschochar Zarnajew einen Mercedes-Offroader und wollten den Fahrer zwingen, sie nach New York zu bringen. Tatsächlich hatten sie eine weitere Dampfkochtopf-Bombe und drei Rohrbomben bei sich. Dschochar Zarnajew sagte nach seiner Verhaftung, er und sein Bruder hätten einen zweiten Anschlag in New York verüben wollen.

Was lief bei der Festnahme?

Nach der Veröffentlichung des Fahndungsfotos töteten die Brüder unter ungeklärten Umständen einen Wachmann des Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der renommiertesten Hochschulen der Welt. Dann kaperten sie den Mercedes, wurden jedoch im Bostoner Vorort Watertown von der Polizei gestellt und in einen Schusswechsel in Wildwest-Manier verwickelt. Tamerlan Zarnajew wurde verwundet, worauf Dschochar versuchte, mit dem Auto zu fliehen. Er überfuhr dabei seinen Bruder und schleifte ihn rund zehn Meter mit. 

Dschochar Zarnajew ergibt sich der Polizei.Bild: AP Massachusetts State Police

Tamerlan erlag schliesslich seinen Verletzungen. Dschochar versteckte sich in einem Boot, das im Hinterhof eines Hauses «überwinterte». An die Innenwand kritzelte er Botschaften wie «Die US-Regierung tötet unsere unschuldigen Zivilisten» – ein Hinweis, dass die Marathon-Bomben die USA für die Kriege in muslimischen Ländern «bestrafen» sollten. Als der Besitzer des Bootes eine Zigarette rauchen wollte, entdeckte er den verwundeten 19-Jährigen in seinem Boot und alarmierte die Polizei. Bei der Festnahme wurde Zarnajew nicht über sein Recht zu schweigen aufgeklärt, was in den USA zu einer Kontroverse führte.

Was geschah in Florida? 

Mysteriös bleibt die Verwicklung von Tamerlan Zarnajew in einen Dreifachmord in Waltham bei Boston. Drei Männer jüdischer Abstammung wurden am 11. September 2011, dem zehnten Jahrestag der 9/11-Anschläge, mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Auf ihren Körpern war Marihuana verstreut worden. Obwohl eines der Opfer mit Tamerlan bekannt war, geriet dieser nicht ins Visier der Ermittler. 

Ibragim Todaschew kam bei einem FBI-Verhör ums Leben.
Ibragim Todaschew kam bei einem FBI-Verhör ums Leben.Bild: AP/Orange County Corrections Department

Das änderte sich nach dem Marathon-Attentat. Ein FBI-Agent und zwei Polizisten befragten einen in Florida lebenden tschetschenischen Einwanderer namens Ibragim Todaschew. Dieser soll gestanden haben, den Dreifachmord zusammen mit Zarnajew verübt zu haben. Am Ende griff Todaschew den FBI-Mann unvermittelt an, worauf dieser seine Pistole zückte und den Tschetschenen tötete. Eine interne Untersuchung bescheinigte ihm, in Notwehr gehandelt zu haben, obwohl Todaschew erwiesenermassen unbewaffnet war.

Wie weiter mit Dschochar?

Dschochar Zarnajew wurde bei der Verfolgung schwer verletzt und befindet sich in einem Gefängnisspital, laut seinen Anwälten in nahezu totaler Isolation. Der 20-Jährige soll in 30 Punkten angeklagt werden, unter anderem wegen dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Er hat in einer ersten Anhörung vor Gericht am 10. Juli 2013 auf nicht schuldig plädiert. Der Prozess soll am 3. November beginnen und dürfte vier Monate dauern. 

Dschochar Zarnajew bei der Anhörung am 10. Juli 2013.Bild: EPA

Weil das Verfahren vor einem Bundesgericht stattfindet, wird die Anklage die Todesstrafe beantragen, obwohl sie im Bundesstaat Massachusetts eigentlich abgeschafft wurde. Beobachter zweifeln, dass es tatsächlich zu einem Todesurteil kommt. Darüber werden die Geschworenen entscheiden, und Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung in Massachusetts die Todesstrafe für den Marathon-Bomber mehrheitlich ablehnt.

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