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Es brennt vor den Toren Europas – wiederholt sich die Geschichte?

Es brennt vor den Toren Europas – wiederholt sich die Geschichte?

Deutsche Soldaten 1914 auf dem Weg zur Front.Bild: wikimedia/bundesarchiv
100 Jahre erster Weltkrieg
Ukraine, Gaza, Irak – überall brennt es. Steht die Welt ein Jahrhundert nach Beginn des «Grossen Kriegs» erneut am Abgrund? Es gibt einen wichtigen Unterschied, von dem auch die Schweiz profitiert.
26.07.2014, 16:4826.07.2014, 17:30
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Am 28. Juli 1914, einen Monat nach dem Attentat von Sarajevo, unterzeichnete Kaiser Franz Joseph die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Man hatte dem greisen Herrscher die Unterschrift mit einer Lüge abgeluchst, einem serbischen Angriff, der wohl nie stattgefunden hat. 

Es war typisch für die «Julikrise»: Europas Monarchien wurden von schwachen Figuren regiert, die sich gegen die Kriegstreiber nicht behaupten konnten. Sie setzten die Bündnisdynamik in Gang, durch die ein begrenzter Konflikt auf dem Balkan zum Ersten Weltkrieg wurde.

Kaiser Franz Joseph unterzeichnete die Kriegserklärung an Serbien.
Kaiser Franz Joseph unterzeichnete die Kriegserklärung an Serbien.bild: wikimedia commons

Seit Monaten wird der 100. Jahrestag des Kriegsbeginns auf zahlreichen Kanälen abgehandelt. Endlich, möchte man sagen. Denn während der «Grosse Krieg» bei Franzosen und Briten bis heute einen hohen Stellenwert hat – ihre Verluste waren im Ersten Weltkrieg weit höher als im Zweiten –, wurde er in der deutschsprachigen Welt durch die leicht perverse Faszination für die Gräuel der Nazis in den Hintergrund gedrängt.

Dabei hätte es diese ohne das «Vorspiel» von 1914 bis 1918 nie gegeben. Nicht umsonst sprechen Historiker von der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» und vom Ende des «langen 19. Jahrhunderts». Die Soldaten zogen mit bunten Uniformen und ledernen Pickelhauben in den Krieg und fanden sich im Zeitalter der Massenvernichtung wieder.

Trümmerteil von Flug MH17.Bild: Getty Images Europe

Und heute? Beim Blick auf die Weltlage stellt sich ein beklemmendes Gefühl ein: Vor den Toren Europas häufen sich die Krisenherde: Libyen, Ägypten, Israel/Palästina, Syrien, Irak, Ukraine. Vereinzelt wurde der Abschuss von Flug MH17 sogar mit dem Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo verglichen. Droht 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs erneut ein Weltenbrand?

Kaum etwas spricht dafür. Und doch herrscht ein grosses Gefühl der Unsicherheit. Verstärkt wird es durch die Tatsache, dass die USA keine Lust mehr haben, den Weltpolizisten zu spielen. Was nicht nur an der kriegsmüden Bevölkerung liegt: Barack Obama hat es mit einer «Mission impossible» zu tun: «Kaum je war ein Präsident gleichzeitig mit so vielen vermeintlich unterschiedlichen aussenpolitischen Krisen konfrontiert, die doch irgendwie zusammenhängen», stellte die «New York Times» fest.

So muss Obama Russland in der Ukraine zurückbinden. Gleichzeitig braucht er Moskau, um die atomaren Ambitionen Irans einzudämmen. Mit dem er sich wiederum Seite an Seite findet im Kampf gegen die sunnitischen IS-Terroristen im Irak. Die in Syrien das Assad-Regime und damit einen gemeinsamen Feind bekämpfen. Weiter muss sich Obama mit dem neu entfachten Konflikt zwischen Israel und Hamas herumschlagen. Von Afghanistan ganz zu schweigen, dessen Zukunft nach der umstrittenen Präsidentenwahl mehr als unsicher ist.

Präsident im Dauerkrisenmodus: Barack Obama an Bord von Air Force One.Bild: reuters

Da kann einem ganz schön schwindlig werden. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Präsident Obamas Sicherheitsteam sprach gegenüber der «New York Times» sinngemäss von einem «totalen Chaos». Sind die USA schuld daran, weil sie nicht mehr intervenieren mögen? Vorwürfe dieser Art sind immer wieder zu hören.

Russische Grossmachts-Träume

Der russische Zar Nikolaus II. und seine Familie wurden von den Bolschewiken ermordet.
Der russische Zar Nikolaus II. und seine Familie wurden von den Bolschewiken ermordet.Bild: AP

Bei genauer Betrachtung haben die meisten Konflikte einen Bezug zum Ersten Weltkrieg. Er brachte das russische Zarenreich zum Einsturz und führte zur Gründung der Sowjetunion. Ihren Zerfall nach dem Kalten Krieg haben viele Russen nie verwunden, allen voran Wladimir Putin. Die «Rückeroberung» der Krim und die Zündelei in der Ostukraine sind Ausdruck der Grossmachts-Sehnsüchte eines Landes, das im Innern reichlich marode wirkt.

Arabisches Pulverfass

Die Originalkarte, auf der das Osmanische Reich aufgeteilt wurde.
Die Originalkarte, auf der das Osmanische Reich aufgeteilt wurde.bild: Wikimedia commons

Die Grenzen von Irak und Syrien wurden 1916 mit dem Lineal auf der Landkarte gezogen. Frankreich und Grossbritannien teilten das Osmanische Reich unter sich auf, bevor der Krieg zu Ende war. In der Folgezeit sorgten Diktatoren hier und in der übrigen arabischen Welt für eine Pseudo-Stabilität, bei wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stagnation. Irgendwann musste das Pulverfass hochgehen. Eine neue Stabilität wird Jahre auf sich warten lassen. Fest steht nur, dass der Islam keine Lösung ist – siehe das Versagen der Muslimbrüder in Ägypten.

Eine Heimstätte für die Juden

Arthur Balfour und die von ihm verfasste Deklaration.
Arthur Balfour und die von ihm verfasste Deklaration.bild: Wikimedia commons

Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern lässt sich auf das Jahr 1917 zurückführen. Der damalige britische Aussenminister Arthur Balfour stellte den Juden in einem Schreiben die Errichtung einer «nationalen Heimstätte» in Palästina in Aussicht. Die Balfour-Deklaration kurbelte die Einwanderung von Juden ins «gelobte Land» an und stiess bei den Arabern auf heftigen Widerstand. Der Keim für das heutige Dilemma war gelegt, ein Ausweg ist nicht in Sicht.

Ein Kontinent aber hat die Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen. In Europa haben sich mit EU und NATO zwei tragfähige Bündnisse gebildet. Es ist kein Zufall, dass die osteuropäischen Staaten nach dem Ende des Kalten Kriegs möglichst rasch den Beitritt zu beiden Institutionen anstrebten. Und dass Georgien, Moldau und die Ukraine lieber heute als morgen dabei wären. Was jene Russland-Versteher gerne «vergessen», die EU und NATO deswegen kritisieren.

Litauische Euro-Münze: Am 1. Januar 2015 wird sie offiziell ausgegeben.Bild: AFP

Die drei baltischen Staaten gingen sogar noch weiter: Estland führte 2011 den Euro ein, Lettland in diesem Jahr, Litauen wird 2015 folgen. Bei uns dürfte sich mancher fragen, warum die drei Länder unbedingt die «Krisenwährung» übernehmen wollen und im Fall von Lettland dafür eine gewaltige, bei uns wenig beachtete wirtschaftliche Rosskur in Kauf nahmen. Der Grund ist einfach: Durch die Mitgliedschaft in der Eurozone können die Balten ihre Westbindung vertiefen und sich vom grossen Bären vor ihrer Haustüre abgrenzen, mit dem sie zur Genüge leidvolle Erfahrungen gemacht haben.

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Das Beispiel dieser Kleinstaaten zeigt: EU und NATO sind attraktiver, als wir in der heilen Schweiz das oft wahrhaben wollen. Für die SVP sind sie Pest und Cholera, dabei verdanken wir diesen Bündnissen jenes stabile Umfeld, in dem wir unsere Luxusprobleme kultivieren und unser Sonderzügli bei den aktuellen Krisen fahren können. Sanktionen gegen Russland? Bloss nichts überstürzen. Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufnehmen? Kommt überhaupt nicht in Frage!

Wir müssen EU und NATO nicht beitreten. Sie auch nicht als «Friedensprojekt» verklären. Aber ein wenig Respekt wäre angebracht – gerade wenn man sich den Ersten Weltkrieg vor Augen führt.

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