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So sicher sind die Atomkraftwerke der Ukraine

Pannen und Unfälle

So sicher sind die Atomkraftwerke der Ukraine

05.12.2014, 09:5105.12.2014, 10:23
Ein Artikel von
Spiegel Online
Markus Becker, Holger Dambeck / Spiegel Online
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Die Panne am ukrainischen AKW Saporischja hat viele verunsichert. Sind die Meiler in dem krisengeschüttelten Land noch sicher? Laufen gar noch Reaktoren vom Tschernobyl-Typ? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Kurzschluss im nicht-nuklearen Teil: Die Atomanlage Saporischja
Kurzschluss im nicht-nuklearen Teil: Die Atomanlage SaporischjaBild: Wikipedia

1. Was genau geschah im AKW Saporischja?

Wie die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) mitteilt, hat sich die Panne bereits am 28. November ereignet. Nach Angaben der ukrainischen Aufsichtsbehörde und des Betreibers sei es zu einem Kurzschluss im nicht-nuklearen Teil der Anlage gekommen. Betroffen war ein sogenannter Messumformer. Mit diesem werden hohe Spannungen gemessen, er dient der Überwachung des Generators und soll ihn vor Beschädigungen schützen. Nach dem Kurzschluss wurde der Generator abgeschaltet und in der Folge auch automatisch Block 3 des Kraftwerks heruntergefahren. Das ist der übliche Ablauf in solchen Fällen. Weder der Generator noch der Reaktor wurden dabei beschädigt.

2. Wie gefährlich war der Zwischenfall?

Sicherheitsrelevante Ereignisse werden auf der Internationalen Skala für nukleare und radiologische Ereignisse bewertet, der Ines-Skala. Sie reicht von 0 («Abweichung») bis 7 («katastrophaler Unfall»). Die ukrainische Aufsichtsbehörde hat die Panne in Saporischja auf die Stufe 0 gestellt – als Ereignis ohne sicherheitstechnische Bedeutung. Als «Störfall» sind Ereignisse von Stufe 1 bis 3 definiert, von einem «Unfall» ist ab Stufe 4 die Rede. Auf Stufe 7 standen bisher nur die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima.

Angeblich ist keine Radioaktivität ausgetreten: Die sechs Reaktorblöcke von Saporischja.
Angeblich ist keine Radioaktivität ausgetreten: Die sechs Reaktorblöcke von Saporischja.Bild: STRINGER/REUTERS

3. Kam es zur Freisetzung radioaktiven Materials?

Laut GRS und ukrainischem Energieministerium war das nicht der Fall. Es seien weder radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangt, noch sei Personal betroffen gewesen. Nach Angaben der französischen Sachverständigenorganisation IRSN vom Mittwoch wurden an der französischen Botschaft in Kiew keine erhöhten Werte für Radioaktivität in der Luft gemessen.

4. Könnte sich die Situation noch verschlimmern?

Danach sieht es nicht aus. Laut GRS wird der Reaktor seit dem Ausfall des Generators über ein Reservenetz mit Strom versorgt – die Kühlung sollte also sichergestellt sein. Der Betreiber habe ausserdem angegeben, dass sich der Reaktor inzwischen in «kaltem» Zustand befindet.

5. Sind in der Ukraine noch Meiler vom Tschernobyl-Typ am Netz?

Nein. Alle noch aktiven ukrainischen Meiler sind Druckwasserreaktoren russischer beziehungsweise sowjetischer Bauart vom Typ WWER. Sie unterscheiden sich im Aufbau grundsätzlich nicht von den weltweit eingesetzten Druckwasserreaktoren. Der Unglücksreaktor von Tschernobyl vom Typ RBMK nutzte ein anderes Prinzip. Als Moderator, also zum Abbremsen der schnellen Neutronen, dient bei ihnen nicht Wasser, sondern Graphit. Der Reaktoraufbau hat Schwächen, die am 26. April 1986 zum Gau im Meiler 3 führten. Der letzte RBMK-Reaktor der Ukraine, Tschernobyl 3, ging im Jahr 2000 vom Netz. In Russland sind noch drei Atomkraftwerke mit insgesamt elf RBMK-Meilern in Betrieb.

6. Wie oft kommt es zu Zwischenfällen in ukrainischen AKW?

Betreiber von Atomkraftwerken müssen alle Störfälle ab Ines-Stufe 2 der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA melden. Sie können auch Ereignisse der Stufen 0 und 1 melden, was beim Ereignis an Meiler Saporischja 3 am 28. November  auch geschehen ist. Von 1998 bis heute gab es genau fünf Meldungen aus der Ukraine – zwei davon der Stufe 2 und zwei der Stufe 1. Bei den beiden Stufe-2-Meldungen ging es um Arbeiter, die einer erhöhten Strahlung ausgesetzt worden waren – einmal in Tschernobyl 1999 und einmal in Saporischja 1998.

7. Wie sicher sind die ukrainischen AKW?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre entsprachen die Kraftwerke nicht den internationalen Standards. «Die Probleme sind entstanden, weil sie anders als etwa in Deutschland nicht kontinuierlich nachgerüstet wurden», sagt Wolfgang Richter, Osteuropa-Experte bei der GRS. Doch ab Mitte der Neunzigerjahre seien die grössten Schwachstellen beseitigt worden. Der Blick in die IAEA-Statistik der letzten Jahre zeigt, dass sich die ukrainischen Kraftwerke zumindest bei den meldepflichtigen Ereignissen kaum von Anlagen in Deutschland, Frankreich oder den USA unterscheiden. In den kommenden Jahren sind weitere Umbauten und Nachrüstungen in den ukrainischen AKW geplant. Das Sicherheitsprogramm wird von der EU begleitet und teils auch finanziert. Ähnliche Nachrüstungen gibt es auch bei deutschen AKW.

8. Gefährdet die Ukraine-Krise die Sicherheit der Kraftwerke?

Drei der vier ukrainischen AKW, und zwar Rovno, Chmelnyzkyj und Ukraine Süd, liegen weit ausserhalb der Gebiete, in denen es Auseinandersetzungen mit Separatisten gibt. Von Saporischja bis zur umkämpften Stadt Donezk sind es immerhin noch 200 Kilometer. Unbestritten ist, dass der Konflikt mit Russland die Ukraine in grosse wirtschaftliche Nöte gestürzt hat. Es gibt aber bislang keine Hinweise dafür, dass die Sicherheit der vier Atomkraftwerke darunter leidet.

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9. Warum die ganze Aufregung?

Das unvorhergesehene Herunterfahren des Saporischja-Blocks 3 hat in einigen Regionen der Ukraine offenbar zu Stromausfällen geführt. Menschen sassen im Dunkeln – darüber haben ukrainische Zeitungen und Webseiten ausführlich berichtet. Die Blackouts sind nicht verwunderlich, denn die vier Atomkraftwerke des Landes erzeugen immerhin 44 Prozent des Stroms der Ukraine (Stand 2013). Saporischja ist mit seinen sechs 1'000-Megawatt-Blöcken das grösste AKW Europas. Wenn plötzlich ein ganzer Meiler und damit ein Gigawatt fehlt, kann das gerade im Winter für Probleme im Netz der Ukraine sorgen.

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