Am 12. Januar tippte Roel Marien eine Nachricht auf Facebook: «Dringend», schrieb er mit drei Ausrufezeichen. «Gesucht: Niere von lebendem Spender; weil die Wartezeit mehr als drei Jahre beträgt, versuche ich es auf diesem Weg.» Am besten wäre Blutgruppe A negativ, zwischen 18 und 45 Jahren. Darunter stand das Foto von Roel Marien und seinen zwei Töchtern.
Nicht einmal vier Wochen später, Anfang Februar, hatten sich acht Facebook-Kontakte gemeldet, die zu einer Spende bereit waren. «Es ging unglaublich schnell», sagt Marien, der in einer Gemeinde nördlich von Brüssel lebt. Er ist 39, auf seinem Facebook-Profil veröffentlicht er Fotos seiner Töchter, von gemeinsamen Familienausflügen und von Oldtimern.
Heute ist Marien frustriert. Das Krankenhaus in Belgien, in dem die Transplantation hätte stattfinden sollen, lehnte Ende März die Operation zunächst ab. Die Begründung der Ärzte: Eine Organspende sei unter diesen Umständen ungerecht. Marien steht nun wieder auf der Warteliste.
In Deutschland warten derzeit 11'000 Menschen auf ein Spenderorgan, 8000 davon auf eine Niere. Drei Patienten sterben jeden Tag, weil für sie kein Spenderorgan gefunden wurde. Die Not macht Betroffene wie Roel Marien erfinderisch, aber auch Ärzten wird vorgeworfen, Patientendaten manipuliert zu haben, um die Organvergabe zu beeinflussen. Im Prozess um den Transplantationsskandal an der Uniklinik im deutschen Göttingen ist der angeklagte Arzt Aiman O. am Mittwoch allerdings freigesprochen worden. Das Landgericht sah den Vorwurf des versuchten Totschlags und der Körperverletzung mit Todesfolge als nicht erwiesen an.
Trotz aller Verbesserungsvorschläge, trotz intensiverer Kontrollen und trotz Organspendekampagnen bleibt am Ende eines: Der Mangel an Organen. Dass sich Menschen wie Marien selbst auf die Suche machen, ist nur verständlich. Trotzdem sind die Fragen, die sein Fall aufwirft, nicht leicht zu beantworten: Sollen sich Patienten über Facebook selbst einen Organspender suchen dürfen und damit die langen Wartelisten umgehen? Oder ist es unfair jenen gegenüber, die keine sozialen Medien benutzen? Die sich vielleicht nicht so gut präsentieren können, schlechtere Fotos haben oder deren Geschichte weniger Menschen berührt?
Die Ärzte von Roel Marien haben Antworten auf diese Fragen gefunden, dem Universitätskrankenhaus Leuven geht es vor allem um Fairness: «Jemand, der in sozialen Medien gut rüberkommt oder sehr aktiv ist, hätte grössere Chancen auf ein Spenderorgan», sagte der ärztliche Direktor, Johan van Eldere, der niederländischen Zeitung «Trouw». Fotogenität oder die Fähigkeit, sich zu präsentieren, sollen aber keine Rolle spielen. Ausserdem gehe es um zukünftige Fälle: «Wenn wir soziale Medien für diese Zwecke einsetzen, kann das längerfristig die Tür zum Organhandel öffnen.» In diese Richtung wolle man nicht gehen.
Steven Vanderschueren ist Internist und am betroffenen Klinikum an der Beurteilung der Organspende-Kandidaten beteiligt. Er erzählt, es sei Unruhe entstanden unter einigen Dialyse-Patienten. «Die ‹Wer am lautesten schreit, bekommt als erster›-Mentalität geht gegen ihr Gerechtigkeitsempfinden», sagt Vanderschueren.
Doch es geht nicht nur um moralische, sondern auch um juristische Fragen. Meistens stammen Organe von Verstorbenen und werden gemäss festen Kriterien und über eine Warteliste vergeben, die die Organisation Eurotransplant für mehrere europäische Länder verwaltet. Daneben gibt es die Möglichkeit einer Lebendspende. In Belgien kommen dafür Familienmitglieder infrage, aber auch Personen, die nicht verwandt sind und eine «beständige Verbindung» zum Patienten haben. In Deutschland werden Ehepartner akzeptiert, Eltern, Geschwister und jene, die dem Empfänger «in besonderer Weise persönlich verbunden sind».
Die Ärzte haben die Frage, wie mit Facebook-Beziehungen umzugehen ist, der Kommission für Bioethik und der Belgischen Transplantationsvereinigung vorgelegt. Noch haben sich die Gremien nicht positioniert, eine abschliessende Stellungnahme steht noch aus.
Der Fall hat in Belgien auch deshalb eine grosse Debatte über Gerechtigkeit, Moral und Ethik ausgelöst, weil fast zur gleichen Zeit in den Niederlanden eine Nieren-Transplantation zwischen Facebook-Freunden stattfand. 2014 hatte Erardo Kea einen Aufruf auf Facebook veröffentlicht, um einen Nierenspender zu finden. Er wurde mehr als 2700-mal verbreitet. Wie im Fall des Belgiers Marien meldeten sich auch bei Erardo Kea mehrere Menschen, die zu einer Spende bereit waren. Aus medizinischen Gründen kamen nicht alle infrage, am Ende blieb eine Frau übrig, die ihm dann auch tatsächlich eine Niere gespendet hat.
Das Universitätsklinikum Amsterdam hat mit einer solchen Transplantation kein Problem. «Für uns macht es keinen Unterschied, wie der Kontakt zustande gekommen ist», sagt Klinik-Sprecher Marc van den Broek. Das Argument der belgischen Kollegen, dass eine solche Transplantation ungerecht sei, findet er verständlich, aber nicht überzeugend: Wer einen grossen Freundeskreis habe oder viele Leute kenne, habe «offline» schliesslich auch einen Vorteil.
Van den Broek meint sogar, dass soziale Medien einen positiven Effekt haben könnten: «Patienten, die selbst einen Spender finden – ob über Facebook oder im Freundeskreis – kommen nicht auf die Listen und verkürzen so sogar noch die Wartezeit für andere.» Durch Aufrufe wie die von Erardo Kea in den Niederlanden und Roel Marien in Belgien würde die Aufmerksamkeit ausserdem auf das Thema Organspende gelenkt.
Marien muss inzwischen regelmässig zur Dialyse. Er überlegt, für eine Transplantation in die Niederlande zu kommen, nur ein paar Kilometer nach Norden. Den Antrag bei der Krankenkasse hat er bereits eingereicht.