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50 Shades of Scham: Keine Demokratie ist prüder als Amerika. Und Facebook macht uns alle zu Amerikanern  

Wenn das nicht eine grossartige Hommage an Conchita Wurst ist! David LaChapelles Plakat für den Wiener Life Ball am letzten Wochenende.Bild: via lifeball.org/ David LaChapelle
Was soll die Zensur der sozialen Medien?

50 Shades of Scham: Keine Demokratie ist prüder als Amerika. Und Facebook macht uns alle zu Amerikanern  

07.06.2014, 08:0123.06.2014, 09:43
Simone Meier
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Wissen Sie eigentlich, was Sie tun? Wenn Sie zum Beispiel auf Facebook sind im guten Gefühl, zur Masse der durchglobalisierten, sozial kompetenten Kommunikationsspezialisten zu gehören? Oder wenn Sie denken, dass der Informationsfluss der sozialen Medien vertauenswürdiger sei als anderswo? Wenn Sie schon längst die herkömmliche Presse aufgegeben haben zugunsten eines scheinbar frei fliessenden News-Flusses? Oder wenn endlich der Tag gekommen ist und Apple Ihre neue Spitzen-App zu Ende kontrolliert und ebenfalls für Spitze befunden hat? Wissen Sie es? Nein? 

Sie sind dann zwar alles, wofür sie sich halten – frei, sozial, globalisiert, informiert, akzeptiert – aber nur in einem ganz bestimmten Rahmen. In einem amerikanischen nämlich. Google, Apple, Facebook, Twitter, alle kommen aus Amerika, unser ganzer digitaler Alltag ist amerikanisch, es ist der pure Kulturimperialismus, dem wir uns begeistert unterwerfen. Haben wir das nötig? Ja. Denn wir haben keine andere Wahl.

SM steht für Social Media und Sado-Maso

Auch wir von watson brauchen Facebook und Twitter dringend als Vertriebskanäle, Sie kennen das. Wir müssen uns dabei zusammenreissen. Als unser Redaktor Philipp Meier einmal ein Bild von einem Penis und von einem VW-Käfer, dessen Motorhaube mit einem weiblichen Geschlechtsteil bemalt war, postete, sperrte Facebook sein Konto für immer. Hätte er nur den Link gepostet statt des Bildes, wäre nichts passiert. 

Denn Facebook hat zwar überall Augen, kann aber zum Glück nicht lesen. Sonst würde es zum Beispiel auch das Konto des grossartigen österreichischen Schriftstellers Clemens Setz sperren, der für seine Recherchen in den schwärzesten Tiefen unterhalb des gemeinhin zugänglichen Netzes bekannt ist und darüber auch in vielen unabhängig gebliebenen, klassischen Medien wie etwa der «Zeit» schreibt. Es gibt diese Dinge, also reden wir doch darüber! Das grosse SM, das sich erst seit einigen Jahren auch als Kürzel für Social Media lesen lässt, kehrt über Verteiler wie Setz ganz schnell und ungeniert zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück. Und dorthin, wo nun mal einfach der Nährboden neuer Medien ist.

Ein für Amerika verboten heisses Plakat: Heidi Klum als Dominatrix nackter Nähsklaven.Bild: Lifetime

Die Rede ist hier nicht von den Klassikern der Elektro-Szene, also von Radio und Fernsehen, aber von medialen Verbreitungsmöglichkeiten wie VHS, DVD und Internet. Deren stabile Geschäftsbasis war immer schon die Pornografie, die halbwegs anständige, wo Löhne bezahlt werden und Gesundheitskontrollen stattfinden, aber auch die kriminelle, die Snuff-Movies, die Kinderpornos. Natürlich ist es vollkommen richtig, Kinder- und Gewaltpornografie im Internet zu verfolgen. Aber man kann dem mündigen Menschen nicht die kosten- und grenzenlose Freiheit und Selbstverwirklichung versprechen, und dann die Geissel der amerikanischen Prüderie schwingen.

Marc Zuckerberg 22-jährig, 2007.
Marc Zuckerberg 22-jährig, 2007.Bild: AP

Nun lässt sich Marc Zuckerbergs Facebook schönreden und verherrlichen und zum Hilfswerk für politische Krisenlagen zurecht stilisieren. Aber rein zufälligerweise werden soziale Medien wie Twitter oder Facebook immer in politischen Systemen wichtig, die der amerikanischen Aussenpolitik zuwider sind. Zweitens wurde Facebook einst von Zuckerberg als Abrechnung mit den Mädchen gegründet, die ihn alle nicht wollten, als Entfesselung seiner Rachegelüste, als Befreiung einer Macker-Seele im Körper eines Nerds.

Europa, der kranke Kontinent

Je reicher Zuckerberg wurde, desto mehr krebste er zurück. Desto mehr wurde aus dem Netz-Anarchisten ein Mainstream-König. 1,28 Milliarden Menschen sind heute auf Facebook, erst 255 Millionen auf Twitter. Das «F» von Facebook steht schon lange nicht mehr für frei. Auf Twitter dürfen die Menschen momentan noch so nackt herumspazieren, wie ihnen die Schamgrenzen gerade gewachsen sind. Doch es bleibt abzuwarten, ob der kleine blaue Vogel in ein paar Jahren auch noch so unbeschwert vor sich hin zwitschern wird. 

Auch Instagram gehört Facebook, zusammen machen die beiden etwa 55 Prozent aller Fotosharing-Seiten aus, es geht also um einen Marktmehrheitsanteil. Und die amerikanische Mehrheit ist prüde. Also sexprüde, nicht gewaltprüde. Gewalt darf überall gezeigt werden: In den normalen Medien, den sozialen Medien, es dürfen erschossene, gesteinigte, zerquetschte Menschen gezeigt werden, jedenfalls, so lange ihre Innereien nicht zu sehen sind, die Innereien berühren offenbar wieder so einen seltsamen Intimbereich, der von uns aus nur schwer nachvollziehbar ist. 

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Europa war ja von Amerika aus gesehen schon immer der physisch wie moralisch kranke Kontinent. Da gibt es alles, was es in Amerika in anonymen Therapiegruppen und in der Rehab zu kurieren gilt: Sexsucht, Alkoholismus, ungebremstes Karnivoren- und Kalorienvertilgertum, Zigarettenabhängigkeit. Wahrscheinlich ist die einzige Sucht, die Amerika von sich aus zugeben würde, die Tablettensucht, aber dabei handelt es sich ja schliesslich nicht in erster Linie um eine genusssüchtige Entgleisung, sondern bloss um eine leicht entgleiste medizinische Massnahme. Dass nun Facebook alle Brustwarzen, Penisse und Vaginalzonen mit einem Bann belegt und dass wiederum zeigefreudige Prominente wie die Bruce-Willis-Tochter Scout und Rihanna auf dem Facebook-Konkurrenten Twitter dagegen protestieren, ist bloss amerikanisch konsequent.

Die Zeichensprache des Anstosses

Auch ein Plakat wie das vom Wiener Life Ball vom letzten Mai-Wochenende, das einen Hermaphroditen in der kulturhistorisch etablierten Umgebung von Hieronymus Boschs Triptychon «Garten der Lüste» zeigt, dürfte in Amerika keineswegs in den Strassen hängen. Im letzten Sommer wurde dort eine nur halb so explizite Plakatwerbung für Heidi Klums «Project Runway» verboten. Und eine Galerie in Atlanta musste in einer Ausstellung von nackten Trans-Menschen die Geschlechtsteile mit schwarzem Papier überkleben. Nacktorgien im amerikanischen Bezahlfernsehen, in Serien wie «Game of Thrones» oder «Masters of Sex», sind omnipräsent und gehören zu den primären Verkaufsmerkmalen, aber in der frei zugänglichen Öffentlichkeit haben sie nichts zu suchen.

Dieses Video war noch nie ein Problem

Dieses Bild war das Ende von Rihannas Instagram-Account.
Dieses Bild war das Ende von Rihannas Instagram-Account.bild: lui

Aber wieso durfte eigentlich Miley Cyrus nackt auf ihrer Abrissbirne rumreiten, während Rihannas Bilder für das französische Männermagazin «Lui» dazu führten, dass ihr Instagram-Account gelöscht wurde? Die Antwort ist ebenso einfach wie doof: Weil bei Miley keine sogenannt primären Geschlechtsmerkmale zu sehen waren, während uns Rihanna direkt mit ihren Brustwarzen ins Gesicht blickte. Was sich auf dem Kunst-Körper des Wiener Hermaphroditen, der zuerst noch eine Frau ist, so schön zeigt, quasi die beiden Punkte und der kleinere oder grössere Strich, das ist für Facebook und Instagram die definitionsmächtige Zeichensprache des äussersten Anstosses. Das «rien ne va» plus in einem Reich des «anything goes».

Brauchen wir das? Die verklemmte Halb-Selbst-Zensur einer Miley Cyrus? Die Verdrängung von Sexualität ins Darknet und die kleinteiligen Bereiche bezahlter TV-Sender – was sind schon 90 Millionen HBO-Abonnenten gegen die 1,28 Milliarden von Facebook? Die Furcht vor klaren, wahren Bildern? Die mediale Stigmatisierung und daraus folgende Skandalisierung der Sexualität? Die unfreiwillige Selbstkontrolle? Natürlich bräuchten wir letztere nicht. Weil wir sie als mündige Netzweltbürger tatsächlich freiwillig ausüben würden. Aber die amerikanischen Super-Unternehmen nehmen uns dies gerne ab. Und nehmen uns dabei nicht ernst. Wollen wir das? Wir haben wohl einfach keine Wahl. 

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21 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Statler
07.06.2014 11:32registriert März 2014
Wahrnehmung und Realität klaffen oft weit auseinander. Bei uns sieht man an jeder Ecke «Titten und Ärsche», jedoch scheint mir, dass danach nicht mehr viel geht. Sex gilt - auch bei uns - immer noch als etwas Schmutziges, das man zwar tut, aber möglichst nur unter der Bettdecke. Und dabei ja nicht zu laut sein, sonst bekommt man Ärger mit den Nachbarn (interessanterweise: wenn sich ein Paar bei offenem Fenster lautstark streitet, ruft dies keine Empörung hervor - hört man aber das lustvolle Stöhnen während eines Liebesaktes, ist die Empörung gross).
In den USA hingegen, ist die Oberfläche zwar «sauber», kratzt man aber an selbiger, geht es ganz schön rund. Es wird geflirtet und gevögelt, dass es dem Durchschnittseuropäer die Schamesröte in's Gesicht treibt. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, die man hierzulande vergeblich sucht. Lächelt man in den USA eine Frau an, bekommt man (meistens) ein Lächeln zurück - hierzulande muss man mit einer Anzeige wegen sexueller Belästigung rechnen.
Diese vielgerühmte Freiheit der Europäer ist keine solche. Sie wird zwar gerne plakativ ausgestellt, gelebt wird sie aber nicht.
Und ganz ehrlich: ich brauche auf FB keine Möpse von Celebs, genausowenig wie ich sie auf Plakaten und in der Werbung brauche.
Noch eine Anekdote: Ich sass in einer Bar in den USA und der Typ neben mir bekommt mit, dass ich aus Europa bin. «Boah, cool! You guys are so lucky, the women are sunbathing topless over there» - «Yeah, but you're not supposed to watch» - «You're not? why are they showing their boobs then?» - «You got a point there…» (und in meinem Kopf summte ich leise vor mich hin «jetzt luege mir doch höchschtens chli uf d'Bei - wil mier Hemmige hei…»)
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