Die «Financial Times» meldet, dass Premierminister Boris Johnson nun zugibt, dass es keine Hoffnung mehr auf einen Deal mit Brüssel gibt. Was das für Folgen hat, ist unklar: Neuwahlen oder eine Koalitionsregierung unter Labour-Chef Jeremy Corbyn sind möglich. Denkbar ist auch ein zweites Referendum.
Derzeit werdend deshalb jede Menge plausible und weniger plausible Szenarien durchgespielt. Realistisch sind letztlich nur zwei Optionen. Nüchtern umschreibt sie Robert Shrimsley in der «Financial Times» wie folgt:
Diese grimmige Wahl hat sich auch in der City of London herumgesprochen, dem nach wie vor führenden Finanzzentrum Europas. David Willetts, ein ehemaliger Mitstreiter von Margaret Thatcher und ehemaliger konservativer Minister, stellt zynisch die Frage:
«Welche Art der Exekution hätten Sie denn gerne? Normalerweise wäre Corbyn ein untragbares Risiko. Doch der Brexit ist der bedeutendste wirtschaftliche und politische Wandel in den letzten 40 Jahren. Deshalb ist der Brexit ein noch unberechenbareres Risiko.»
Ähnlich tönt es beim ehemaligen Finanzminister Ken Clarke, einem der angesehensten Tory-Politiker überhaupt. «Beide Aussichten sind schrecklich», sagt er. «Aber ich denke, dass ein No-Deal-Brexit noch grösseren wirtschaftlichen Schaden anrichten würde als Corbyn.»
Eine erstaunliche Aussage. Jeremy Corbyn ist kein Salon-Sozialist, wie es einst Tony Blair war. Er ist ein in der Wolle gewaschener Marxist, der nach einer jahrzehntelangen Karriere als unbedeutender Hinterbänkler aus einer Laune des Zufalls heraus Chef der Labour-Partei wurde.
Corbyn plädiert nicht für einen sanften dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, was immer das auch sein mag. Er will beispielsweise die Eisenbahnen wieder verstaatlichen. Ein staatlicher Pharmakonzern, das Abschaffen der Privatschulen und die Beteiligung der Arbeiter am Aktienkapital der Unternehmen stehen ebenfalls auf seiner Wunschliste. Selbstverständlich plädiert er auch für höhere Steuern für die Finanzindustrie.
All dies schreckt die Banker in der City of London weniger als ein No-Deal-Brexit. So erklärt Christian Schulz, Analyst bei der Citigroup, gegenüber der «New York Times»:
Die Londoner Finanzindustrie setzt zudem darauf, dass eine Corbyn-Regierung ihr Wirtschaftsprogramm nur bedingt durchsetzen kann. Der Labour-Chef hat schlechte Umfragewerte. Neuwahlen wären auch eine Chance für die bisher bedeutungslosen Lib-Dems und die Grünen.
In Schottland würde derweil die Scottish National Party abräumen, die einen weit gemässigteren Kurs fährt als Labour. Sollte es dazu kommen, so die Spekulation, wäre Corbyn danach für eine Mehrheit auf eine Koalition angewiesen, die ihn mässigen würde.
Selbst in der Labour-Partei scheint nicht alle Hoffnung verloren. John McDonnell, der Schatten-Finanzminister und enger Berater Corbyns, ist zwar ebenfalls ein überzeugter Linker. Er ist jedoch weit umgänglicher als sein Boss. «Mit ihm kann man reden», sagt Lord Kerslake, ein ehemaliger hoher Beamter, der als Go-between zwischen Labour und Wirtschaftsvertretern agiert.
Allerdings hätte eine Corbyn-Regierung für die Banker einen Kulturschock zur Folge. Mit Vertretern der Blair-Regierung pflegten sie jeweils bei Crevetten-Cocktails und Champagner zu verhandeln. McDonnell akzeptiert bloss Tee und Biskuits – und besteht darauf, selbst zu bezahlen.
Kein selbstdestruktiver Brexit, welcher aufgrund von Xenophobie und Finanzlügen durchgeboxt wurde.
Abkehr von der Eisenbahnprivatisierung, welche seine Versprechen nicht einhalten konnte und den Menschen nicht dient.
Gewinnbeteiligung der Arbeiter - schrecklich.
Chancengleichheit bei der Bildung - furchtbar.
Pharmaunternehmen die nicht auf die nächste Cash Cow und Plünderung der Sozialsysteme hinarbeiten - unvernünftig.
Und die arme Finanzindustrie. Muss jetzt schon mit nur dem 3.5-fachen dem arbeitenden Bevölkerung auskommen.
Entweder Sozialismus oder Neofaschismus. In England heisst das Corbyn oder Johnson.