Olena Selenska soll in einer Cartier-Boutique in New York Schmuck im Wert von 1,1 Millionen US-Dollar ausgegeben haben. Zur gleichen Zeit sprach ihr Ehemann, der ukrainische Präsident, vor den Vereinten Nationen über die Notlage der Ukraine. Wie soll man das verstehen? Dass die Selenskyjs sich einen Dreck um das Leid ihres Volkes scheren, schlimmer noch, dass sie Kriegsgewinnler sind.
Unwürdig von ihnen, oder? Nur stimmt die Story nicht. Zwar stimmt es, dass das Ehepaar Selenskyj Mitte September zur 78. UNO-Generalversammlung nach New York reiste und der ukrainische Präsident bei dieser Gelegenheit sprach. Doch die «Information», dass seine Frau das dicke Portemonnaie gezückt habe, um sich in einer Cartier-Boutique zu vergnügen, ist ein Fake.
Dies belegt der BBC-Journalist Shayan Sardarizadeh, der sich auf die Entlarvung von Verschwörungstheorien und Fake-News spezialisiert hat. In einem Thread, der am Freitag, 6. Oktober, auf seinem X-Account veröffentlicht wurde, geht Shayan Sardarizadeh der Quelle dieses mittlerweile viralen Fakes nach. 👇
Thread: You may have seen viral posts that Olena Zelenska, President Zelensky's wife, spent $1.1m on Cartier jewellery during the couple's recent visit to the US.
— Shayan Sardarizadeh (@Shayan86) October 6, 2023
Let's find out why those posts are false, and examine how pro-Kremlin disinformation of this kind travels online. pic.twitter.com/81h5zSk7Rn
Alles beginnt am 30. September. In einem Video auf einem obskuren YouTube-Kanal behauptet eine junge Frau, die sich als ehemalige Angestellte von Cartier ausgibt und ausserdem ein äusserst mysteriöses Instagram-Konto namens @gorgeous.bb.jeanette besitzt, zwei Dinge:
Das Problem ist, wie Shayan Sardarizadeh ausführt, dass das Ehepaar Selenskyj am 22. September nicht mehr in New York, sondern in der kanadischen Hauptstadt Ottawa war.
Alles «stinkt» nach Falschinformation in diesem Video, das wie aus dem Nichts auftauchte – und jeder konnte sich davon überzeugen. Wie wäre es überhaupt möglich gewesen, dass der Besuch der Ehefrau des ukrainischen Präsidenten in einer Cartier-Boutique, noch dazu in New York, wo die Medien überall sind, unbemerkt geblieben wäre, fragte sich zum Beispiel der BBC-Journalist.
Ungeachtet der offensichtlichen Falschheit der Montage löste sie einen Schneeballeffekt aus. Am 2. Oktober wurde sie als gesponserter Inhalt auf The Nation veröffentlicht, einer nigerianischen Website, die «weitgehend von kremlfreundlichen Menschen geteilt wird», wie Shayan Sardarizadeh feststellt.
Der Fake «geht auf Telegram, Twitter, TikTok und anderen Plattformen viral», wie der Enthüllungsjournalist feststellt. Die russische Botschaft in Grossbritannien verbreitet ihn auf ihrem Twitter-Account. In der Schweiz übernimmt der Schriftsteller und Polemiker Slobodan Despot, der den Hörern der sonntäglichen Sendung «Les beaux parleurs» auf RTS gut bekannt ist, den Fake von einem pro-russischen Account und teilt ihn am 4. Oktober ebenfalls auf seinem X-Feed mit diesem Kommentar:
«Goodfellas», auf Deutsch «Goodfellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia», spielt im New Yorker Mafia-Milieu. 👇
Pendant que M. Zelensky réclamait du fric à l’ONU, Mme Zelenska dépensait un million de $ chez Cartier.
— Slobodan Despot | antipresse.net (@despotica) October 4, 2023
Ces gens ne manquent pas seulement de décence, mais encore d’esprit. Ils devraient voir Goodfellas, de Scorsese… https://t.co/YKN3GDTtap
Von einem Nutzer auf sein Missverständnis aufmerksam gemacht, korrigiert Slobodan Despot dies am nächsten Tag in einem weiteren Tweet voller Sarkasmus:
On me signale que Mme Zelenska ne pouvait en même temps faire une razzia à un million chez Cartier à New York ET applaudir un vieux SS au Canada. Entre corruption et nazisme, vous avez le choix... https://t.co/mcVnuOeSxr pic.twitter.com/t0NCg2hOv6
— Slobodan Despot | antipresse.net (@despotica) October 5, 2023
Am 22. September, dem Datum auf der (falschen) Rechnung, die Olena Selenska zugeschrieben wird, befindet sich das Ehepaar Selenskyj in Ottawa. In Begleitung von Premierminister Justin Trudeau wird der ukrainische Präsident vom kanadischen Parlament empfangen. Dort unterläuft den kanadischen Behörden ein übler Fauxpas, als sie einen ukrainischen Veteranen, der nachweislich in der Waffen-SS mit den Nazis gekämpft hatte, in Anwesenheit von Wolodymyr Selenskyj, der jüdisch ist, von den Parlamentariern mit stehenden Ovationen feiern lassen. Ein Fehltritt, der vom Kreml sofort ausgenutzt wird.
Websites, die sich der Aufklärung von Verschwörungstheorien verschrieben haben, ordnen Slobodan Despot und sein Medium Antipresse der Impfgegner-Bubble und der Unterstützung für Russland zu. Der Betroffene wischt die Kritik beiseite und sagt, er sei «klar im Kopf».
Von watson kontaktiert, erklärte Slobodan Despot seinen ersten Tweet über Olena Zelenska: «Es war plausibel, dass sie vielleicht Geld in den Kauf von Schmuck investieren wollte.» Zu Ottawas Fehltritt: «Die kanadischen Behörden hätten sich über die vollständige Biografie des ukrainischen Veteranen informieren müssen. Das ist unverzeihlich.» In seinem zweiten Tweet geht Slobodan Despot jedoch nicht auf diesen Aspekt der Dinge ein. Er schliesse allerdings nicht aus, dass «Frau Selenska» den ehemaligen ukrainischen SS-Mann wissentlich mit Applaus begrüsst habe. Dies kann natürlich als Anspielung verstanden werden.
In Bezug auf den Krieg in der Ukraine argumentiert Slobodan Despot, dass «wir im Westen ein totalitäres System zur Manipulation der Massen errichtet haben».
Der Franzose Tristan Mendès-France, ein Spezialist im Kampf gegen Verschwörungstheorien, analysiert den Effekt, der mit der Fake News angestrebt wurde, um Olena Selenska und durch sie ihren Ehemann zu kompromittieren.
Der Boden für die Desinformation sei im Vorfeld vor allem von Russland bereitet worden. Dieser Boden führe dazu, dass Fake News wie diese bald einmal den Rang einer richtigen Information erlange, die es dann zu entrümpeln gelte, so Mendès-France. Aus Gründen der Vernunft sollte jeder die Lüge der «Juwelenaffäre» zugeben. Aber da sie für einige «plausibel» erscheint, also im Bereich des Möglichen liegt, ist es, als ob sie wahr wäre.
Ich hoffe die Zusammenarbeit wird mit dem Russentroll per sofort eingestellt!