Es war einmal im Emmental. Auf der linken Wange von Christine wächst etwas und schwillt an. Ein schattenhafter Fleck unter der Haut, später eine dunkle Wölbung, sodann ein Krater, brandschwarz. Jetzt die Explosion! Dort, wo der Teufel die Frau geküsst hat, platzt das Gewebe, und es krabbeln und schwärmen aberhundert kleine Spinnen in die Welt. Nun sind sie die Herren: Die Spinnen bringen die Pest.
Dieses Meisterstück der fantastischen Realistik hat sich 1842 der Pfarrer Jeremias Gotthelf, Autor der «Schwarzen Spinne» ausgedacht. Es war das perfekte Mittel, um seine Schäfchen auf Spur zu halten. Gottesfurcht durch Angst und Drohung, es war die Zeit dafür. Das satanische Werk der Pest goss Öl ins Feuer des Stumpfsinns, der von den Kanzeln oft zu vernehmen war.
Dabei war Gotthelf mit seiner schwarzen Kirchen-Pädagogik nicht einmal besonders kreativ. Er hatte lediglich zusammengetragen, was an Sagen und Volksdichtung seiner Zeit im Schwange war. In den Erzählungen des Christentums, in alten Sagen und Menschheitserzählungen raunte man sich über die Jahrhunderte zu: Am Anfang war die Spinne. Nicht das Wort, nicht Gott. Am Anfang war das Böse in Inkarnation des Spinnentiers.
Das Böse besitzt sogar ein Geschlecht. Namensgeberin der wissenschaftlichen Bezeichnung der Spinnen, der Arachniden, ist eine Frau. Die Weberin Arachne ist das Mädchen in der griechisch-römischen Mythologie, das eine Göttin zum Wettstreit in der Webkunst herausfordert. Arachne gewinnt, die Irdische webt kunstvoller als die Göttliche. Doch für ihren Hochmut wird sie bestraft.
Der Aberglaube der alten Griechen, fortgesetzt in den Irrtümern des Mittelalters mag sich in Bezug auf die Spinne heute erledigt haben. Doch der klebrige Bedeutungsfaden über die Vorstellung darüber, was die Spinne alles verkörpert, reisst nicht ab. Die toxischen Erzählungen der Ahnen verbinden sich und kumulieren in der Spinne. Teufel, Hexen und (Geistes-)Krankheiten damals sind die Ängste, die Panik, das irrationale Gruseln vor dem Tier heute. Wo immer Spinnen auftauchen, Gefühlsnotstände sind nicht weit.
Kulturwissenschafter und Ethnologen stellen allerdings fest: Unsere Wahrheit ist nur die halbe, es gibt auch eine andere Perspektive auf die Tiere. Naturvölker des aussereuropäischen Raums sehen und bewerten Spinnentiere viel positiver als wir. Nichtchristliche, nichtwestliche Kulturkreise sind dem Tier wohlwollend verbunden. Oft wird es sogar religiös verehrt. Nordamerikanische Indigene sind der Ansicht, die Spinne habe gar bei der Erschaffung der Welt mitgeholfen, indem sie für die Menschen das Tor zum Leben hütete. In indianischen Sagen überliefert sich die Überzeugung, Spinnen hätten den Menschen die Kunst des Spinnens und Webens beigebracht.
Eine anerkennende Sicht auf die Tiere gelang dem Westen und dort überall, wo die Kirche ihre Netze spann, nicht. Hier ist es die Deutung der Religion, die das Bild der Spinne beherrscht. Spinnen im Alten und Neuen Testaments sind ohne Ausnahme Platzhalter für den Unglaube und die Sünde. Im Buch Hiob steht: «Sie (die Gottlosen) brüten Basiliskeneier aus und wirken Spinnweben. Isst man von ihren Eiern, so muss man sterben, zertritt man's aber, so fährt eine Otter heraus.»
Einer der sich in diesem Sinne mit Beiträgen zum Wesen der Spinne besonders hervortat, war ein in Europa des 16. Jahrhunderts verehrter Schweizer Arzt und Laientheologe: Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus. Kam die Rede auf die Spinnen, verbreitete der allerdings in seinen Schriften und Vorträgen die abstrusesten Winkelwahrheiten und Gespenstergeschichten.
Die Spinne, lehrte Paracelsus, entsteht aus dem Menstruationsblut von Frauen. Ausgebrütet würden sie höchstpersönlich vom Teufel. Diese Sicht auf das Tier und die Frau war für die Stützen der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht nützlich. Auf naturgegebene Weise sonderte er die Frauen aus, schied sie als Brutstätten des Bösen aus der Gesellschaft. Und auch der Teufel hatte nun eine christliche Aufgabe und war untrennbar verbunden und verwachsen mit dem Geschlecht und der Natur der Frau.
Noch abstruser und fataler als die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Teufel war nur noch Paracelsus' Folgeschluss: Die bösen, also ungehorsamen Frauen, die Hexen würden das Gift der Menstruationsspinnen dazu benutzen, um Männer impotent zu machen.
Natürlich hatte auch Paracelsus, wie Gotthelf nach ihm, alles Wissen jener Zeit auf seiner Seite. Auch die Überlieferungen gaben ihm recht. Verbreitet bis in sorbische Sagen soll zu lesen sein, dass die Entstehung von Spinnen mit verdorbenen Körpersäften zu denken ist. Man glaubte sie seien aus dem Blut allmächtiger Titanen oder schrecklicher Gorgonen geboren. Von der Spinne zum Vampir Nosferatu, dem Todbringer, ist es nur ein kleiner Biss.
Davon erzählt auch die zeitgenössische Kunst, wenn Louise Bourgeois (1911-2010) Riesenspinnen herstellt (siehe das Coverbild) und sie ohne Ausnahme «Maman» nennt. Das Gifttier ist die böse Frau und Übermutter, die den Faden der Existenz spinnt, uns in ihn einwickelt und aussaugt. Die Psychoanalyse jedenfalls hat am Symboltier Spinne mannigfach Freud'.
Eine kleine Horrorepisode aus der Science-Fiction-Anthologie «Love Death Robots» erzählt von einem Raumschiff, das vom Kurs abgekommen ist. Der in sich abgeschlossene 17-minütige Kurzfilm ist realistisch animiert und lässt Zuschauende trotz kurzer Spielzeit und noch kürzerer Spinnensequenz verstört und angeekelt zurück.
«Love Death Robots» Staffel 1, Episode 2: «Beyond the Aquila Rift». Netflix.
In einem Wohnkomplex in Frankreich nistet sich eine neue Spinnenart ein und breitet sich schnell aus. Der Debütfilm von Sébastien Vanicek überzeugt einerseits durch starke Charaktere wie den warmherzigen Tierfreund Kaleb, der die neue Spinnenart versehentlich freigelassen hat. Andererseits durch wahrhaft grausige Bilder, die sich gekonnt in die Narration einfügen.
Vermines (2023)
Falls es «den einen» Spinnen-Horrorfilm gibt, dann ist es «Arachnophobia». Ein Forschungsteam bringt aus dem Dschungel eine betäubte Spinne einer neuen, besonders aggressiven Art mit nach Hause. Dabei übersehen die Forscher, dass sie eine zweite Spinne einschleppen – die ist nicht betäubt. Als sie sich mit einer einheimischen Art paart, nimmt das Unheil seinen Lauf.
Arachnophobia (1990)
Dieser Film ist eine Mischung aus Spinnenhorror, beachtlichen praktischen – also physischen, nicht computergenerierten - Effekten und dem wohl bekanntesten Handlungsstrang der Horrorwelt: Eine ahnungslose Familie zieht in ein altes, verlassenes Herrenhaus, das von einem uralten Wesen heimgesucht wird. Perfekte Popcorn-Unterhaltung mit schauderhaften Momenten.
Itsy Bitsy (2019).
Arthouse Studio A24 – aktuell mit «Love Lies Bleeding» in den Kinos – veröffentlichte 2014 einen mit Horrormotiven gefüllten komplexen Psychothriller. Mit Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle erforscht der Film das Doppelgänger-Motiv, spielt mit Horrorreferenzen und setzt Arachniden als effektive Angstbilder ein.
Enemy (2014). (bzbasel.ch)