Es ist ein Rekord. Im letzten Jahr stellten 2877 unbegleitete Minderjährige ein Asylgesuch. Fast immer handelt es sich um junge Männer, etwa 70 Prozent sind 16- oder 17-jährig und nur 3.5 Prozent sind weiblich. Mehr als 2000 unbegleitete Minderjährige stammen aus Afghanistan, zum Teil waren sie seit Jahren unterwegs. Manchmal sammelt ein ganzes Dorf Geld, um eine Person in Richtung Westen loszuschicken.
Die Familien stecken dann ihre ganze Hoffnung in die ausgewählten jugendlichen Männer. «Sie stehen unter wahnsinnigem Druck, weil sie Geld heimschicken müssen, damit es ihren Familien gut geht», sagte Michèle Stephani in der SRF-Sendung «10vor10». Sie leitet das Transitzentrum Landhaus in Davos, in dem unbegleitete Minderjährige betreut werden.
Viele Jugendliche sind psychisch stark belastet, sei es durch die Erlebnisse während der Flucht oder in ihrem Heimatland. «Oft treffen wir auch auf Jugendliche, die unter Persönlichkeits-, psychotischen oder Bindungsstörungen leiden», sagte Sydney Gaultier, Psychologie am Universitätsspital Waadt, gegenüber swissinfo.ch. Ein aktuelles Problem lautet: Es fehlt an Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen.
Von den 2877 unbegleiteten Minderjährigen trugen letztes Jahr nur 132 ein Ausweisdokument mit sich. Manche sind jedoch älter, als sie behaupten. Im Zweifelsfall kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Alter mittels Gutachten bestimmen lassen. Untersucht werden Körper und Zähne, der linke Handknochen wird geröntgt. In 545 von 1040 Fällen wurde letztes Jahr die Minderjährigkeit bestätigt. In den restlichen Fällen stufte das SEM die Betroffenen als volljährig ein.
Das Alter ist insofern relevant, als unbegleitete Minderjährige von verschiedenen Fördermassnahmen profitieren. Auch die Hürden für eine Wegweisung sind höher. Ausgeschafft werden dürfen sie zum Beispiel nur, wenn sicher ist, dass sie zu ihrer Familie zurückkehren können oder in einer Institution Unterschlupf finden.
Mehr als 2000 minderjährige Asylsuchende erhielten den Flüchtlingsstatus oder wurden vorläufig aufgenommen. Bei 668 war das Verfahren noch hängig. Nur wenige (36) erhielten einen negativen Entscheid inklusive Wegweisungsverfügung. Zwangsausschaffungen gab es keine. Diese Zahlen nannte der Bundesrat während der Frühlingssession in schriftlichen Antworten zur Fragestunde des Nationalrats.
Wie verlaufen Integration und Bildungskarriere von unbegleiteten Minderjährigen? Das SEM führt dazu kein Monitoring. Christine Schraner Burgener, Staatssekretärin für Migration, sagt, die Jugendlichen könnten von Integrationsmassnahmen profitieren, die auf sie zugeschnitten seien, sobald sie den Kantonen zugewiesen werden. «Als Beispiel nenne ich hier die Integrationsvorlehren, in denen sie sich gezielt auf eine Berufslehre vorbereiten können.»
Claudia Nef ist Geschäftsführerin des Trägervereins Integrationsprojekte St.Gallen, der im Auftrag der Gemeinden Geflüchtete betreut. Der Trägerverein erfasst die Entwicklung der unbegleiteten Minderjährigen, solange er für sie verantwortlich ist, und kann deshalb Angaben zum Bildungsverlauf machen.
Nach einem Jahr Aufenthalt in der Schweiz, so Nef, erreichen die meisten bei der (schriftlichen) Sprache das Niveau A2, ein Jahr besuchen sie den Kurs für das Niveau B2. Das bedeutet: Sie können sich gut verständigen und über diverse Themen in eigenen Worten schreiben. Etwa 70 Prozent beginnen eine Lehre. Wer diese Karriere einschlägt, erhält eine Belohnung: ein eigenes Zimmer in einer betreuten WG.
Nef lobt die hohe Leistungsbereitschaft der jungen Afghanen. Sie würden auch deshalb eine Berufslehre starten, weil die Betreuer und Betreuerinnen ihnen vorrechneten, dass dies in der Schweiz unabdingbar sei für eine erfolgreiche Erwerbskarriere und bessere Lohnperspektiven eröffne, anstatt sich zum Beispiel als Hilfskraft in einer Imbissbude zu verdingen. (aargauerzeitung.ch)
Andererseits natürlich tragisch, dass so viele Minderjährige auf eine solche gefährliche Reise nach Nirgendwo geschickt werden.