Sie
haben den EWR-Beitritt von links bekämpft. Halten Sie das noch heute
für richtig?
Andreas Gross: Absolut.
Ich fühle mich sogar von den Entwicklungen seither bestärkt. Wir
sagten damals Nein zur Entlassung der Wirtschaft aus der Demokratie.
Es ist das entscheidende Problem unserer Zeit: Die ausschliesslich
nationale Demokratie ist nicht mehr in der Lage, die transnationale
Wirtschaft zu zähmen, zu zivilisieren, sozial- und umweltverträglich
zu gestalten.
Wie
gross war damals das Verständnis für Ihre Einstellung?
Die
Auseinandersetzungen waren tatsächlich heftig. Viele waren vom Nein
eines überzeugten Europäers überrascht. Doch je tiefer die
Diskussion ging, umso grösser war das Verständnis. Viele merkten,
dass mit der demokratischen Balance etwas nicht stimmt und der EWR
eine Kapitulation vor der eigentlichen Herausforderung ist, das
Primat der Politik über die Ökonomie wieder herzustellen.
Das
EWR-Nein gilt als Sieg von Christoph Blocher. Fühlen Sie sich als
linker Gegner zu wenig gewürdigt?
Keineswegs.
Die nationalkonservative Position dominierte tatsächlich. Das war
nicht erstaunlich, weil die Schweiz die europäische Integration bis
in die zweite Hälfte der 1980er Jahre völlig ignorierte und
unterschätzte. Sie fand in den Zeitungen ausschliesslich auf den
Wirtschaftsseiten statt. Zudem pushte der Bundesrat 1989 mit seiner
unseligen «Diamant»-Feier zum Jubiläum des Beginns des Zweiten
Weltkrieges – de facto natürlich eine Kampagne zur Verteidigung
der Armee – und 1991 zur Heroisierung von 1291 die nationalistische
Nabelschau. Da konnte 1992 kein kosmopolitischer, aufgeklärter
Volksentscheid erwartet werden.
Können
Sie den patriotischen Furor gegen den EWR heute noch nachvollziehen?
Absolut.
Wer 40 Jahre lang Europa ignoriert, sich auf den Markt beschränkt und 1989 und 1991 mit nationalistischen Kampagnen auf den Bauchnabel
fokussiert, der muss sich nicht wundern, wenn er Ende 1992 keine
Mehrheiten findet für europäische, solidarische, aufgeklärte
Einsichten. Das setzt einen gesellschaftlichen Lernprozess voraus, an
dem in der Schweiz kaum jemand gearbeitet hat.
Waren
Sie und andere Verfechter des rotgrünen Neins Blochers «nützliche
Idioten»?
Sicher
nicht. Die politische Schwäche des EWR war vielen bewusst. Sogar
Staatssekretär Franz Blankart, mit dem ich trotz aller Differenzen
sehr verbunden war, gestand mir, dass er nach dem Scheitern der
Schweiz, eine Mitbestimmungsmöglichkeit bei neuem
EU-Wirtschaftsrecht in den Vertrag einzubauen, dem Bundesrat den
Verzicht auf das EWR-Abkommen vorgeschlagen hatte. Zudem darf man
nicht vergessen, dass es ohne uns vielleicht ein Volks-Ja gegeben
hätte, die Vorlage aber auf alle Fälle am Ständemehr gescheitert
wäre.
In
der Fernsehdebatte zum EWR sassen Sie neben Michael Dreher von der
Autopartei. Hat diese «unheilige Allianz» bei Ihnen nie Zweifel
geweckt?
Zweifel
habe ich jeden Tag. Sie sind normal, sogar ständig nötig, weil die
fruchtbarsten Quellen und Anstösse zum besseren, genaueren Denken.
Eine Allianz war es auch nicht, ob heilig oder unheilig, einfach ein
etwas gruseliger Nachbar. Doch das ist am Fernsehen nicht selten so.
Die alternativen Nachbarn wären nur wenig angenehmer gewesen. Der
St.Galler CVP-National- und spätere Ständerat Eugen David hatte mir
immer wieder gesagt, die Demokratie sei sowieso eine gefährliche
Sache, der Mensch müsse eher gebändigt werden, als dass man ihm
noch mehr Demokratie zubilligen könne. Und der nach aussen sehr
selbstherrliche Appenzeller CVP-Autokrat Carlo Schmid war auch einer,
der kein Europäer sein wollte, und sich vor allem um die Wirtschaft
und die schweizerischen Marktzugänge sorgte.
Wie
beurteilen Sie die Rolle des Bundesrats, insbesondere das umstrittene
Beitrittsgesuch?
Das
war aus der Sicht der drei von Europa überzeugten Bundesräte Flavio
Cotti, René Felber und Jean-Pascal Delamuraz – sie konnten Dölf
Ogi einbinden und dadurch eine Mehrheit im Bundesrat finden –
grundsätzlich richtig und bringt auch deren Einsicht in die Schwäche
des EWR zum Ausdruck. Denn der machte wirklich höchstens Sinn als
Übergang in die EU-Mitgliedschaft, wie dies damals auch die Mehrheit
der Romandie befürwortet hat. Doch sie verkannten völlig die
herrschende Mentalität in der Deutschschweiz und wohl auch im
Tessin. Dort ging es auch der grossen Mehrheit der EWR-Befürworter
nur ums Geschäft, um die Integration in den Markt, und da wurde das
bundesrätliche Beitrittsgesuch überhaupt nicht verstanden.
Sie
waren gegen den EWR, aber für den EU-Beitritt. Eine ziemlich
exotische Position.
Das
war und ist noch kein Argument. Schon damals war mir klar, dass der
Nationalstaat zu klein ist, um die grössten Probleme zu bewältigen.
Das können wir nur gemeinsam kontinental. Gleichzeitig war ich aber
auch überzeugt davon, dass die Europäische Union ungenügend
ausgestaltet ist und demokratisiert werden muss, etwa in
Form einer föderalistischen europäischen Bundesverfassung. Um diese
Transformation maximal voranzubringen, müssen Sie aber Mitglied
sein.
Die
skeptischen Schweizer konnten Sie davon nicht überzeugen.
In
Österreich, wo ich auch an vielen Debatten mitwirken durfte, war
diese Vorstellung gar nicht exotisch. Die österreichische Regierung
hat zwei Jahre nach dem EU-Beitritt unsere Idee einer
europäischen Volksmotion in die Vertragsreformverhandlungen
aufgenommen. Daraus ist vor sieben Jahren die heutige Europäische
Bürgerinitiative entstanden, ein Babyschritt gewiss, aber immerhin
ein erster kleiner Anfang einer transnationalen, europäischen direkten Demokratie.
Sie
sind ein glühender Verfechter der direkten Demokratie. Glauben Sie
ernsthaft, dass die EU sich in Ihrem Sinn entwickeln wird?
Das
ist keine Glaubensfrage, sondern eine Sache der Vernunft und des
Willens der Europäerinnen und Europäer. Die EU muss ihre Verträge
durch eine föderalistische Bundesverfassung ersetzen, wenn sie sich
demokratisieren und eine direkte Beziehung zu den Bürgerinnen und
Bürgern eingehen will. Und eine Verfassung als Vereinbarung der
Bürgerinnen und Bürger über die Organisation der Macht ist nur
dann eine wirkliche Verfassung, wenn die Mehrheit der
Mitgliedsstaaten und der Bürgerschaft sie in einem Referendum
angenommen haben. Womit sie einen zentralen Baustein der direkten
Demokratie bereits realisiert hätten.
Kann
das in einem grossen Verbund wie der EU funktionieren?
Je
grösser der Raum und je zahlreicher die Bürgerinnen und Bürger,
die demokratisch organisiert sein wollen, umso mehr benötigt die
repräsentative Demokratie eine direktdemokratische Ergänzung. Denn
bei 600 Millionen Menschen und 700 EU-Parlamentariern ist die
Repräsentativität relativ dünn. Wenn ein Parlamentarier fast eine
Million Menschen vertreten muss, dann fühlen sich diese zu weit weg
und schätzen eine zweite Möglichkeit, ihren Willen zum Ausdruck zu
bringen. Eben das Referendum oder die Initiativen.
In
dieser Hinsicht tut sich aber wenig.
Sie
haben insofern recht, als die Bürgerinnen und Bürger Europas erst
noch in mächtigen Demokratiebewegungen zeigen müssen, dass sie eine
demokratische EU wollen, bevor sich die EU wirklich auf diesen Weg
macht. Das war auch in den vergangenen 200 Jahren in den
Nationalstaaten nie anders. Die Eliten liefern nie mehr Demokratie.
Die müssen sich die Bürger gegen die Herrschaften erkämpfen, denn
die Demokratie schmälert ja die Macht dieser Herrschaften, und dazu
sind diese nie freiwillig bereit.
Ein erster Anlauf für eine europäische Verfassung scheiterte 2005 ausgerechnet an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden.
Das war doch keine Verfassung, sondern ein weiterer Vertrag von 440 Seiten, dem man aus PR-Gründen die Etikette «Verfassung» anklebte und den unsinnigen Pleonasmus «Verfassungs-Vertrag» kreierte – ein verantwortungsloser Etikettenschwindel. Ich verstand vor allem das französische Nein, das im Unterschied zum niederländischen die Frucht einer enormen, langen, tiefen und sehr differenzierten Debatte war und genau dieser undemokratischen, entpolitisierten EU galt, welche, statt die nationalstaatlichen Defizite zu kompensieren, die Entmachtung der Demokratie und die Marginalisierung der Politik gegenüber der Ökonomie fortsetzte und so jegliche dringenden sozialpolitischen Fortschritte verunmöglichte.
Das
Brexit-Votum dürfte für die direkte Demokratie in der EU eher ein
Rückschlag gewesen sein.
Ja
und Nein. Ja, weil dieses selbstherrliche Plebiszit von zu vielen mit
der direkten Demokratie verwechselt wird. Obwohl es ganz verschiedene
Dinge sind. In einer direkten Demokratie kann nie von oben einfach so
eine Volksabstimmung beantragt werden, wie dies Premierminister David
Cameron aus rein innerparteilichen Gründen gemacht hat. In einer direkten Demokratie sind es immer kleine Bürgergruppen, die eine
Volksabstimmung auslösen über ein ganz konkretes Gesetz oder eine
Verfassungsänderung.
Und
warum war es kein Rückschlag?
Weil
die EU ohne die Briten einfacher demokratisiert werden kann.
Grossbritannien war immer der grösste Verfechter einer Reduktion der
EU auf eine Marktorganisation und wird wohl das Land in Europa sein,
das sich am längsten der Einsicht verwehren wird, dass zur Rettung
der Demokratie deren suprastaatliche und transnationale Verfassung
notwendig ist. Es kennt ja selber noch keine schriftliche Verfassung.
Laut
dem jüngsten Europa-Barometer ist der EU-Beitritt in der Schweiz
weiterhin chancenlos, der EWR aber potenziell mehrheitsfähig.
Beides
kann kaum verwundern. Die EU ist in einem ausgesprochen schlechten
Zustand, viele fürchten gar um ihre Zukunft. Zudem sind zwei
Einsichten in der Schweiz kaum verbreitet, und es wird auch wenig
dafür getan: Erstens sind sich in der Schweiz nur wenige bewusst,
dass die Demokratie nationalstaatlich nicht gerettet und neu
ermächtigt werden kann. Anders als transnational lässt sich dies
nicht machen. Und zweitens sind sich in der Schweiz auch nur wenige bewusst, dass sich die EU total renovieren liesse, was eine
Demokratisierung und Föderalisierung mit sich bringen würde.
Und
was ist mit dem EWR?
Diese
Perspektive ist anachronistisch geworden. Mit unseren über 100
Verträgen haben wir heute eine andere Beziehung zur EU. Eine
Neuauflage des EWR würde eher eine Regression bedeuten.
Norwegen
und Liechtenstein scheinen mit dem EWR ganz gut leben zu können.
Das
mag von aussen so aussehen. Wobei man sich in Liechtenstein
mehrheitlich mit einer obrigkeitlich domestizierten Demokratie
begnügt, kann doch der Fürst jeden Volksentscheid mit einem Veto
ausser Kraft setzen. Da sind die demokratischen Ansprüche also schon
lange kleiner als in der Schweiz. Und in Norwegen ist die
Demokratiedebatte noch weit mehr im Eimer als anderswo. Wobei mir
damals viele sagten, dass die Norweger mehrheitlich nicht nur den
EU-Beitritt, sondern auch den EWR abgelehnt hätten, wenn sie 1992
auch hätten abstimmen dürfen.
Der
bilaterale Weg entpuppt sich aber zunehmend als Sackgasse. Wäre der
EWR aus pragmatischer Sicht nicht die bessere Lösung gewesen?
Keineswegs.
Die Bilateralen Verträge brachten uns weiter und erfolgten im
Einklang mit der Demokratie. Dass sich der bilaterale Weg
längerfristig als Sackgasse entpuppt, war logisch und von Anfang an
absehbar. Deshalb ist der Diskurs von FDP und CVP auch so
irreführend, die den bilateralen Weg als Königsweg bezeichnen. Die
Alternative ist aber nicht der EWR, sondern der Beitritt und das
Engagement zur Demokratisierung und Föderalisierung der EU. Als
Bürger engagiere ich mich seit über 25 Jahren für diese
Veränderung der EU, weil ich weiss, dass ich nur dann in der Schweiz
eine Mehrheit vom Beitritt überzeugen kann, wenn die EU
demokratischer funktioniert und föderalistischer organisiert ist.
Wie
beurteilen Sie die aktuelle Debatte zu den Bilateralen, insbesondere
dem institutionellen Rahmenabkommen?
Sie
bringt die Endlichkeit der Logik des Bilateralismus ebenso zum
Ausdruck wie das Dilemma des EWR, dass die EU der Schweiz kein Recht
zugestehen kann, die europäische Rechtsetzung zu beeinflussen wie
ein EU-Mitgliedstaat. Vielleicht wird sich der Beitritt halt doch als
bessere Option erweisen. Freilich wäre gerade zur Überwindung der «Guillotine-Klausel» ein Rahmenabkommen, oder wie Herr Juncker
meint ein «Freundschaftsabkommen», das alle Teilverträge
zusammenfasst, sicher sinnvoll. Doch eines, das wie der EWR eine
fast automatische Übernahme von neuem EU-Recht beinhaltet, wird in
der Schweiz keine doppelte Mehrheit bei Volk und Ständen finden. Da
braucht es noch mehr Fantasie, wie dies Didier Burkhalter immer versucht hat.
Sei
Nachfolger Ignazio Cassis will den «Reset»-Knopf drücken. Ist
das die richtige Strategie?
Einen
solchen Knopf und eine solche Strategie gibt es doch gar nicht. Nicht
einmal eine Revolution ist ein Neubeginn von Null an. Die Gegenwart
ist immer voller Geschichte, die nie ausgelöscht oder vergessen
werden kann. Wir können nicht anderes als auf ihr aufbauen.
Vielleicht meint Cassis, dass wir neue Wege gehen sollten, eine neue
Form der Beziehung aufbauen. Ich weiss es nicht. Es wäre freilich
mehr als sinnvoll, wenn wir in der Schweiz beginnen würden, uns
selber und die anderen, die gar nicht so anders sind als wir, neu zu betrachten. Wir würden mehr erkennen und besser herausfinden, was
wir in unserem gemeinsamen Interesse besser tun könnten.
Hat
der Bundesrat richtig entschieden, der neuen Kohäsionsmilliarde ohne
Gegenleistung zuzusagen?
Die
Gegenleistung wird doch schon lange von der EU erbracht, täglich und
stündlich. Die Schweiz bezahlte und bezahlt für die Leistung der EU
seit 1957 und vor allem seit 1989 in Europa: Einen grossen Markt, in
dem die Schweizer Firmen viele und gute Geschäfte machen können,
sowie friedliche Zustände auf dem Kontinent, die auch der Schweiz
viel Leid und Schmerz erspart haben. Zudem leistet die EU in Mittel-
und Osteuropa enorme Nachholinvestitionen, welche auch im Interesse
der Schweiz sind, die sich so daran beteiligt. Das müsste der
Bundesrat halt viel mehr und genauer erklären, wie manch anderes
auch. Der Bundesrat vergisst, was mein alter FDP-Kollege Ernst
Mühlemann immer anmahnte: 50 Prozent der Politik – vor allem in
der Exekutive – ist Pädagogik!
Sie
haben den Gegensatz zwischen nationaler Demokratie und globalisierter
Wirtschaft betont. Er wird seit Jahren diskutiert. Trotzdem hat man
nicht den Eindruck, die Staatengemeinschaft habe bei der Entwicklung
gemeinsamer Regeln Fortschritte gemacht.
So lange wird dies noch nicht
diskutiert. Zehn Jahre sind ganz kurz, wenn es um geschichtliche
Lernprozesse geht. Frankreich etwa hat erst dieses Jahr dank dem
enormen Engagement von Präsident Emmanuel Macron gelernt, dass
Sozialstaat und Demokratie nur via Europa gerettet beziehungsweise
retabliert und gefestigt werden können. Deshalb Macrons
Reformvorschläge für die EU, die in Deutschland oder Holland aber
bisher kaum diskutiert worden sind.
Man hat den Eindruck, dass in Europa
derzeit eher die Nationalisten Auftrieb haben.
Die erstarkten nationalistischen
Strömungen in Europa sind Ausdruck des Problems und fast so etwas
wie ein normaler Reflex. Wir brauchen noch mehr Zeit und vor allem
Debatten, um zu merken, dass dieser Reflex nicht reicht, sondern den
transnationalen Märkten nur transnationale Leitplanken gesetzt
werden können. In diese gesellschaftlichen Lernprozesse gilt es zu
investieren und sich anzustrengen. Auch dies macht die Schweiz viel
zu wenig. In den EU-Ländern sind diese Erkenntnisprozesse schon
weiter, wenn auch nicht so weit, wie sie sein sollten.