Liebe Tamara
Wie Sie vielleicht wissen, bin ich auf dem Land aufgewachsen. Und zwar wirklich auf dem Land, nicht etwa «nur» ländlich. Voll Land. Dorf sagt man auch zu so was. 1500 Menschen. Etwa gleich viel Hunde. Dort grüsst man sich auf der Strasse. Und zwar mit Namen, das ist das Mindeste.
Als ich dann mit etwa 5 Jahren mit meiner Mutter in der Metropole Solothurn unterwegs war, habe ich selbstverständlich auch alle gegrüsst. Grüessech hier und Grüessech da. Es war sehr anstrengend, weil es sehr viele Menschen auf der Strasse hatte an diesem Tag. Ich habe schnell begriffen, dass das so nicht geht.
Probieren Sie es doch auch einfach mal aus! Kommen Sie doch einfach mal einen Tag lang nach Zürich und halten Sie allen Menschen, die irgendwas auf dem Arm tragen, die Türe auf. Am besten vor der Fraumünster-Post, oder wenn Sie sich das nicht zutrauen, halt auf der Sihlpost. Sie werden abends mit einem Tennisarm heimfahren und schnell begreifen, dass in der Stadt bitzli andere Regeln gelten, als auf dem Land. Weil es einfach mehr Menschen sind und man nicht im gleichen Masse in verbindlicher Freundlichkeit leben kann. So wie man nicht jeden Passanten grüssen kann. Das ist einfach so und hat nichts mit fehlendem Respekt zu tun.
Es gibt in der Stadt wie auf dem Land zuvorkommende Menschen und unfreundliche Arschlöcher. Die zweitgenannten haben es in der Stadt aber einfacher, in der Anonymität zu funktionieren, während man sich im Dorf schneller den Mund über sie zerreissen würde. Es hat drum auch mit sozialer Kontrolle zu tun, weniger mit angeborenen Charakterzügen.
Dennoch gehe ich mit Ihnen einig, dass man es in der Stadt auch noch mehr kultivieren könnte, das mit der Freundlichkeit. Wir sind da noch lange nicht am Limit angelangt. Wir könnten uns dafür ein Vorbild an den 9'157'590 Menschen in Tokyo nehmen. Die schaffen es auf mir wunderliche Art und Weise in einer Zweierkolonne vor dem einfahrenden Zug am Perron zu stehen und kein Gemoste und Gedränge vor der Tür zu veranstalten. Und es wirft auch kein Japaner seinen Zigarettenstummel oder ein Kaugummipapier achtlos auf den Boden. Solche «Details» wirken sich enorm auf das Gefühl in dieser Stadt nieder und selbstredend auch auf das Stadtbild. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um zu kapieren, dass der Asphalt überall so neu und jungfräulich wirkt, weil es keinen einzigen Kaugummiabdruck darauf hat. Das sind für mich alles Zeichen von grossem Respekt dem gemeinsamen Raum und den anderen Menschen gegenüber. Und diese Werte, sowie eine gelebte Hilfsbereitschaft vermittle ich auch meinem höchst urbanen Kinde.
Aber nun eine Frage zurück: Können Sie mir erklären, warum man in ländlichen Gebieten der Schweiz so konsequent rechts wählt? Ist man auf dem Land nicht hilfsbereit zu anderen Menschen aus anderen Kulturen? Für mich ist das einfach nur Anstand, Respekt und Hilfsbereitschaft. Würde auch auf dem Land niemals auf die Idee kommen, die SVP zu wählen. Kann doch nicht meinem Sohn Anstand, Respekt und Hilfsbereitschaft verlangen und dann eine Partei unterstützen, der jegliche Menschlichkeit gegenüber Ausländern abgeht. Und ja, ich habe das auch von meinen Eltern gelernt. Und zwar auf dem Dorf. Und nein, ich behaupte nicht, dass Sie SVP wählen. Aber ein Grossteil Ihrer Nachbarn auf jeden Fall. Und hey, wenn einem in der Stadt die Türe aufgehalten wird, dann nicht selten von einem Ausländer. Oder einem Junkie.
Ganz herzlich, Ihre Kafi.