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Wie, du bist in den Sommerferien nicht verreist?

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Wie, du bist in den Sommerferien nicht verreist?

Ferien auf Balkonien oder im eigenen Land sind total uncool. Heute haben die Kinder schon verloren, wenn sie ihren Freunden gestehen müssen, dass sie nicht verreist sind. Eine Abrechnung mit dem Reisewahn.
26.08.2015, 10:3517.09.2015, 11:13
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Ein Artikel von
Branding Box

Der Individualisierungswahnsinn ist ein Phänomen, das mich schon längere Zeit ausgesprochen nervt. Alle müssen scheinbar die gleichen total ausgefallenen Dinge machen, um ihrer Umwelt und sich selbst zu beweisen, wie unglaublich einzigartig ihr Leben ist. 

Das Absurde daran ist jedoch, dass diese Dinge überhaupt nicht individuell sind, sondern ganz im Gegenteil nur ein banaler Trend, der den Menschen von der Individualisierungsindustrie als der neue heisse Scheiss verkauft wird. 

Die Marathon- und Everest-Manie

Man ist aber nichts Besonderes, wenn man in den 00er Jahren Sushi «für sich» entdeckt und bei diversen Marathonläufen (zu denen sich Jahr für Jahr mehr Menschen anmelden) zu sich selbst gefunden hat. 

Wer nach den Sommerferien in der Klasse nicht davon berichten kann, zumindest die Landesgrenze hinter sich gelassen zu haben, der gilt als absolut uncool.

Und dass man sich zu den immer zahlreicheren Leuten zählt, die sich mit einem Hubschrauber bis kurz unter den Gipfel des Mount Everest fliegen lassen, um anschliessend sein ganzes Gepäck von Einheimischen tragen und seinen Müll vor Ort liegen zu lassen, macht einen nicht zu einem tiefsinnigen Bergbezwinger, den seine Passion an die menschlichen Belastungsgrenzen geführt hat. 

Jetzt auf

Auch und schon gar nicht, wenn man anschliessend ein bräsiges Buch darüber verfasst, wie umfassend man erleuchtet wurde, während man an einem Seil Schlange stand und warten musste, bis die anderen Jecken vor einem endlich oben waren. 

Pilgern, Entschleunigen, Yoga – aber bitte nicht mit Kids

Versteht mich nicht falsch: Man kann diese und andere Sachen gerne machen, das bleibt ja letztendlich jedem und jeder selbst überlassen. Dieses enervierende Hape-Kerkeling-Buch lesen und sich anschliessend auf Pilgerfahrt begeben zum Beispiel. Oder irgendeine der Sachen tun, die Julia Roberts in dem Film «Eat, Pray, Love» macht. Entschleunigung, Spiritualitätshokuspokus, Essen total sinnlich mit den Fingern erfahren. Yoga Retreat auch. 

Kreuzfahrten müssen es sein, Fernziele, am besten mit Flugzeiten über 4 Stunden.

Leider greift dieser Trend mittlerweile auch auf die Urlaubsgestaltung mit Kindern über. Wer nach den Sommerferien in der Klasse nicht davon berichten kann, zumindest die Landesgrenze hinter sich gelassen zu haben, der gilt als absolut uncool. 

Zwei Wochen auf Balkonien? Ihr könnt euch wohl nicht leisten zu verreisen, hmm?! Wie, ihr wart im Harz?! Da gibt es doch nichts! Piefige Inlandsziele und Campen im Nachbarort zählen nicht mehr als «echter Urlaub». Kreuzfahrten müssen es sein, Fernziele, am besten mit Flugzeiten über 4 Stunden. 

Die «totale Erholung» mit fremden Kulturen

Aber wieso eigentlich? Das Problem ist, was wir in unserer immer komplexeren, gestressten Welt aus Reisen (auch für Kinder) gemacht haben. Bildungsreisen müssen es sein, die totale Erholung mit fremden Kulturen und einem Hauch Exotik. Wir verreisen nicht mehr, um auszuspannen oder einfach zu schauen, was passiert, sondern wir verreisen, um nach unserer Rückkehr davon berichten zu können. Wir kapitalisieren unsere Erfahrungen. 

Und wo warst du so in den Sommerferien?

«Ich war schon in …» ersetzt schon längst, wie es uns gefallen hat. Mein Haus, mein Auto, mein Pferd, meine Fernreise. «Reisen Sie sich interessant!» lautet der Slogan unter dem Erwachsene wie Kinder sich heute von Daheim zu entfernen haben. «Wo schonmal gewesen sein» als Persönlichkeitsoptimierung. Vielleicht kann man ja später bei möglichen Speed Datings darauf zurückgreifen. 

«Reisen Sie sich interessant!» lautet der Slogan unter dem Erwachsene wie Kinder sich heute von Daheim zu entfernen haben.

Aber warum müssen auch noch unsere Kinder damit behelligen? Was ist mit den langen Sommern unserer Kindheit, in denen uns vor lauter Langeweile die tollsten Sachen eingefallen sind. Erzählen wir dem Nachwuchs nicht immer davon: «Was wir früher alles gemacht haben, das würdet ihr nicht glauben.» Ja wie auch?!

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