9.32 Uhr: Ich treffe mit der S13 aus Wädenswil im beschaulichen Bahnhof in Einsiedeln ein. Schon beim Verlassen des Zuges merke ich: Dies ist ein besonderes Stück Schweiz. Die Strassen sind einen Tick sauberer als sonst, die Einwohner noch mehr darauf bedacht, sich freundlich zu grüssen, selbst die Hunde bellen nur so laut, dass es zwar auffällt, aber keinesfalls stört.
Doch schnell spüre ich die Angst, die im Dorf allgegenwärtig ist. Diese Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten. Ich spüre sie, als ich beim örtlichen Beck ein Sandwich und einen Emmi-Erdbeer-Drink kaufen will. «Sie sind nicht aus der Region, oder?» fragt mich die Verkäuferin. Ihr zuvor freundliches Gesicht wirkt nun nicht mehr allzu freundlich. «Nein, ich komme aus Zürich und bin für eine Reportage hier», antworte ich und versuche betont entspannt zu wirken. «Aus Zürich, eh? Kommst hier her und bringst AIDS, Homosexualität und dieses schändliche Internet in unser schönes Städtchen. Und nun steckst du deine Nase in unsere Angelegenheiten, eh? Mach das du fort kommst!»
Und das tu ich. Raus aus dem Laden und ab Richtung Ortszentrum, vorbei an Statuen wehrhafter Schweizer wie Willhelm Tell, Arnold Winkelried, General Guisan und James Schwarzenbach. An den Strassenlaternen wehen IS-Fahnen, «Inner-Schweiz».
Phillipp Ziegler war 15 als er merkte, dass er anders war als die anderen Kinder. «Ich wollte Rockmusik hören und farbige T-Shirts anziehen, ich wollte einfach ausbrechen.» Vielleicht lag es daran, dass seine Mutter nicht aus Einsiedeln sondern aus Schindellegi stammt, vielleicht auch, weil er schon als Kind Radio 24 hörte und die Moderatoren von einer Welt erzählten, die er nicht kannte. «Ich träumte immer von der grossen weiten Welt, oder zumindest vom Rest der Schweiz. Ich hörte, dass man ausserhalb Einsiedelns eine andere Frau als seine Cousine heiraten konnte, dass es andere Fester als den fasnächtlichen Mäuderball gab und dass man bereits im Bündnerland mit Bügelbrettern, so genannten Snowboards, den Hang runterfahren konnte, was in Einsiedeln nach wie vor verboten ist.»
So zog Ziegler mit 18 nach Zürich und hat seine Heimat seither nur wenige Male besucht. Er hat mich auf meinen Besuch in Einsiedeln vorbereitet. «Machen Sie keine schnellen Bewegungen und zeigen Sie immer ihre Hände. Alles andere macht die Bevölkerung nervös und könnte je nach Situation schlimm enden.»
Einsiedeln hat im Februar diesen Jahres mit 64 Prozent für die Masseneinwanderungs-Initiative gestimmt, hat jedoch nur einen Ausländeranteil von 14 Prozent. Der Bezirksrat ist ausschliesslich mit Männern besetzt, acht von neun Räten sind bürgerlich.
«Frauen gelten hier wenig», sagt die grüne Lokalpolitikerin Lina Gerster. «Genau so wenig wie Ausländer, Linke, Studenten, Zürcher, Schwule & Lesben, Velofahrer und Smartphone-Nutzer. Da ist es wenig erstaunlich, dass ein amerikanischer ETH-Dozent auch nach 39 Jahren noch als fremder Fötzel angeschaut wird. Seine Steuern, die nicht tief sein dürften, nehmen die Bünzlis gerne, aber politisch mitreden, um Herrgottswillen nein!» Gerster führt mich durchs Dorf und bleibt vor dem Kloster Einsiedeln stehen. «Jetzt wo sich sogar die Katholiken den Homosexuellen annähern, kann es sein, dass die Mönche hier in Einsiedeln bald als linksliberale Revoluzzer gelten.»
Selbst die Einsiedler Babyklappe sei nur ein PR-Stunt der Stadtväter gewesen, sagt Gerster. «Sie wollten Einsiedeln als modern und innovativ präsentieren. Nun legen sie jeweils alle zwei Jahre ein Baby aus dem Dorf in die Klappe, damit wir schweizweit positive Publicity haben. Das Baby wandert einen Tag später wieder heimlich zur Mutter zurück und Einsiedeln wird wieder so öde und bünzlig wie zuvor.»
Dass der 75-jährige Amerikaner nicht eingebürgert wurde, obwohl er seit 1975 im Dorf wohnt und drei Kinder grossgezogen hat, stellt für den lokalen SVP-Politiker Rudolf Hodler kein Problem dar. «Der Ami soll jetzt mal nicht so beleidigt tun, sonst schaffen wir ihn gleich aus. Das wäre ja der Gipfel, wenn wir uns hier nach den moralischen Ansprüchen der Rest-Schweiz richten, oder einfach nur den gesunden Menschenverstand gebrauchen täten», so Hodler. «In zwei Monaten haben wir hier eine Abstimmung, ob wir die im deutschen Sprachraum verpönten Begriffe Neger und Zigeuner wieder in den Einsiedler Schul- und Kinderbücher verwenden wollen. Ich sage Ihnen, das wird bestimmt angenommen. Und als Nächstes entziehen wir hier den Frauen wieder das Stimmrecht.»
Romeo
Homer