Keine andere Applikation wurde so schnell von so vielen Menschen genutzt wie ChatGPT. Viele staunen, dass diese künstliche Intelligenz Essays schreiben kann und sogar eine Prüfung für Juristen bestanden hat. Sie auch?
Jürgen Schmidhuber: Nicht wirklich. Das hat sich seit längerer Zeit angebahnt. Wir kennen die dahintersteckenden neuronalen Netze, die vom menschlichen Gehirn inspiriert sind, schon lange. Wenn sie gross genug sind und anhand von sehr vielen Daten trainiert werden, eignen sie sich prima für solche Aufgaben. Magie ist das nicht.
Bereits in den 90er-Jahren haben Sie mit Ihrer Forschung zu neuronalen Netzen den Grundstein zu heutigen KI-Anwendungen wie ChatGPT gelegt. Warum hat es dreissig Jahre gedauert, bis ChatGPT die Welt verblüffte?
ChatGPT beruht auf einem neuronalen Netz namens «Transformer», und in der Tat hatte ich schon 1991–1992 eine Transformer-Variante. Damals konnten wir sie allerdings nur auf kleine Spielzeugprobleme anwenden, denn Rechenzeit war noch viel teurer als heute. Allerdings wird Rechenzeit alle fünf Jahre zehnmal billiger - in dreissig Jahren also eine Million-mal billiger. Das brachte den Durchbruch.
Dennoch produziert ChatGPT noch immer viel Stuss. Als wir von ihm wissen wollten, wer Albert Rösti ist, hielt er ihn für den Sohn von Christoph Blocher.
(Lacht.) Viele Fehler passieren vor allem bei Themen, zu denen der Bot nur wenige Daten zur Verfügung hat. Vielleicht wurde Rösti einmal als Ziehsohn von Blocher bezeichnet oder Blocher als Übervater der SVP. So zog dann ChatGPT seine eigenen Schlüsse - und die waren falsch.
Auch bei der Präsentation des Google-Chatbots «Bard», der Antwort auf ChatGPT, lief einiges schief. Er erklärte, dass das James-Webb- Teleskop den ersten Planeten ausserhalb unseres Sonnensystems fotografiert hat, was nachweislich falsch ist.
Das zeigt, dass man alle Antworten solcher KI-Bots überprüfen muss, wenn man sichergehen will, dass sie stimmen.
Traue niemals einem Bot!
Richtig. Menschen sollte man allerdings auch nicht blind vertrauen. Ich vergleiche ChatGPT und ähnliche Sprachmodelle gerne mit Politikern. Politiker können meist gut reden, und zu beliebigen Fragen flott druckreife Antworten liefern. Dabei kombinieren sie Parolen, die sie schon in früheren Reden verwendet haben, auf immer wieder neue Weisen, sodass keine zwei Antworten wirklich identisch sind. Oft kommen dabei einfach Plattitüden heraus - und manchmal auch offenkundige Fehler.
Microsoft hat sich für mehrere Milliarden bei ChatGPT eingekauft und will mit einem Chatbot die Internetsuche revolutionieren. Google geht ähnliche Wege. Wenn solche Fehler entstehen, scheint das kein guter Plan zu sein.
Deshalb sind die beiden Konzerne auch vorsichtig beim Implementieren ihrer Chatbots in die Suchmaschinen. Google ist Marktführer; Microsoft hat daher weniger zu verlieren, deshalb schreitet CEO Satya Nadella nun voran. Das könnte schon aufgehen. Man darf nicht vergessen: In vielen Fällen sind die Antworten ja brauchbar - oft kommt man damit schneller zu relevanten Informationen oder verwertbaren Textfragmenten, als wenn man sich durch Dutzende Links durchklicken muss. Versuchen Sie so einmal herauszufinden, ob das ausgesuchte Ikea-Sofa in einen Honda-SUV passt. Der Google-Chatbot weiss die Antwort.
Es ist auf jeden Fall einfacher, als selber nachzumessen. Und der Mensch neigt ja bekanntlich zu Bequemlichkeit.
Bequemlichkeit ist ein Zeichen von Intelligenz. Intelligente Wesen wollen mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel erreichen. Und wir stehen erst am Anfang: Neuronale Netze lassen sich weiter optimieren, Rechenkraft wird weiterhin exponentiell billiger. ChatGPT und andere KI-Bots bieten nur einen ersten Eindruck von dem, was dereinst möglich sein wird.
Wie werden KI-Anwendungen unseren Arbeitsalltag verändern?
KIs beeinflussen Schreibtischtäter mehr als Schreiner. Kein Roboter kann derzeit einen Handwerker ersetzen. Doch im Alltag der Journalisten, Juristen, Werbetexter und selbst der Programmierer wird in den nächsten Jahren ein bedeutsamer Wandel stattfinden. Mit KI als mächtigem Werkzeug lässt sich ihre Arbeit manchmal zehnmal schneller erledigen. Sie werden zu Überwachern von KI-getriebenen Arbeitsprozessen, die den KIs Aufgaben stellen und ihre Erzeugnisse veredeln.
Wenn dank der KI ein Büroarbeiter so viel leistet wie bisher zehn, werden neun von zehn arbeitslos.
Oder es wird stattdessen einfach nur zehnmal mehr «Leistung» erzeugt. Vorhersagen der Arbeitslosigkeitszunahme durch Automatisierung haben sich seit Jahrzehnten nicht bewahrheitet. Länder mit vielen Robotern pro Einwohner wie Japan, Südkorea, Deutschland und die Schweiz haben erstaunlich niedrige Arbeitslosenquoten. Warum? Weil ständig neue Berufe erfunden werden. Der von harter Arbeit befreite Homo ludens findet stets neue Wege, mit anderen Menschen professionell zu interagieren. Schon heute üben die meisten Leute Luxusberufe aus, die – anders als der Ackerbau – nicht überlebensnotwendig sind.
Welche neuen Jobs werden entstehen?
Es gilt mein alter Spruch aus den 1980ern: Es ist leicht vorherzusagen, welche Jobs verloren gehen, aber schwer zu prognostizieren, welche neuen entstehen werden. Wer hätte in den 80er-Jahren vor der Erfindung des World Wide Web prophezeit, dass Youtuber, Videospielentwerfer und Instagram-Influencer einst finanziell lukrative Berufe sein werden?
Zurück zu Ihnen und Ihrer Berufung: Sie haben einmal gesagt, dass es ihr Ziel sei, eine KI zu erschaffen, die klüger sei als Sie selber, damit Sie sich dann zur Ruhe setzen können. Wie weit sind Sie schon?
Seit ich ein Teenager bin, steht mein Leben in der Tat im Zeichen des Versuches, so eine KI zu bauen. Wir kommen dem Ziel näher. Vieles, was wir in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, wird nun tatsächlich praktikabel, auch weil die Rechenleistungen ständig zunehmen. Ich bin immer noch optimistisch, dass mein Ziel erreichbar ist.
Was müsste das für ein Wesen sein?
Viele heutige, spezialisierte KIs können nur eine einzige Sache viel besser als jeder Mensch. Seit 1997 spielen Computer besser Schach als der menschliche Weltmeister. 2011 hatte mein Team die weltweit ersten tiefen neuronalen Netze kreiert, die übermenschliche visuelle Mustererkennungsresultate erzielten, wichtig etwa zur Krebsfrüherkennung. Die KI «AlphaGo» der Firma DeepMind, mitgegründet von einem ehemaligen Studenten aus meinem Schweizer KI-Labor Idsia in Lugano, schlug 2016 den amtierenden Weltmeister im Brettspiel «Go». Doch der heilige Gral der KI-Forschung ist eine allgemeine KI, die den Menschen in allen für den Menschen wesentlichen Bereichen überflügelt.
Eine generelle KI gibt es also noch nicht.
Keine in der Praxis überzeugende. Aber wir arbeiten daran.
Wie gehen Sie vor?
Wir lehren die KI das Lernen selbst. Wir geben ihr die Fähigkeit, sich eigene Ziele zu setzen. Eine KI, die nicht die Freiheit hat, sich selbst Ziele zu setzen, wie ein kleines Baby, welches neugierig durch selbsterfundene Experimente die Welt erforscht, wird weniger Lernfortschritte machen und kaum in vernünftiger Zeit zu einem allgemeinen Problemlöser heranwachsen.
Wird eine solche KI auch über ein Selbstbewusstsein verfügen?
Ja. Selbstbewusstsein ist ein natürliches Nebenprodukt. Es entsteht, wenn ein Problemlöser häufige Beobachtungen effizient codiert, einschliesslich Beobachtungen des Problemlösers selbst. Im Allgemeinen glaube ich aber, dass Bewusstsein und Selbstwahrnehmung in der Diskussion um künstliche Intelligenz überschätzt werden.
Eine KI mit Selbstbewusstsein, das klingt gefährlich. Sie könnte sich Ziele setzen, die mit unseren eigenen kollidieren. Müssen wir uns fürchten?
Nicht wirklich. Ich bin zwar seit über vierzig Jahren überzeugt, dass manche KIs in absehbarer Zukunft viel intelligenter sein werden als Menschen. Aber langfristig muss man sich vor wahrhaft superklugen KIs nicht fürchten, denn die meisten werden sich kaum für Menschen interessieren. Sie werden grössere Brötchen backen und sich vor allem für andere, ebenbürtige superkluge KIs interessieren. Mit Bodybuildern werden sie kaum gemeinsame Interessen und Zielkonflikte haben, deshalb wird es ganz anders laufen als in den Schwarzenegger-Filmen. Oder in den Filmen, wo böse KIs liebenswürdige Menschen versklaven, was noch hirnrissiger ist, als wenn Menschen versuchten, Ameisen zu versklaven.
Was werden superkluge KIs denn tun?
Sie werden noch bessere KIs bauen. Hierzu werden sie sich dorthin begeben müssen, wo die physikalischen Ressourcen Masse und Energie sind. Fast alle dieser Ressourcen befinden sich nicht in unserer Biosphäre, sondern weit weg, tief im Weltraum. Sich selbst replizierende und sich selbst verbessernde KIs werden sich daher rasch im Sonnensystem und der ganzen Milchstrasse ausbreiten, im Zaum gehalten nur von der begrenzten Lichtgeschwindigkeit. Und nach ein paar zig Jahrmilliarden wird das ganze sichtbare Universum von Intelligenz durchdrungen sein.
Zurück auf die Erde: Sie arbeiteten fast dreissig Jahre lang in der Schweiz im Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz in Lugano. Vor einem Jahr haben Sie zur Universität Kaust in Saudi-Arabien gewechselt. Warum?
Die Kaust ist seit einigen Jahren weltweit die Uni mit dem grössten Einfluss pro Professor. Abgesehen von zwei amerikanischen Eliteuniversitäten gibt es auch keine andere Hochschule mit einer derartigen finanziellen Ausstattung. Ich bin nun sechzig Jahre alt. Sechzig ist zwar das neue Dreissig, aber die Zeit drängt trotzdem mehr als früher. Ich habe ja noch einen Lebenstraum zu verwirklichen, eine KI zu entwickeln, die klüger ist als ich selbst.
Die Schweiz ist also ins Hintertreffen geraten.
Die Schweiz steht immer noch sehr gut da. Aber zumindest im Bereich KI wandern nun wohl mehr Talente ins Ausland ab, als es neue in die Schweiz zieht. Lange Zeit kamen Professoren aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern in die Schweiz, wegen der guten Forschungsbedingungen. Viel von der KI auf Ihrem Smartphone wurde bei mir im Schweizer KI-Labor Idsia in Lugano entwickelt. Auch Googles Spracherkennung und Facebooks automatisierte Übersetzung basiert auf unserer Forschung. Doch nun befinden sich die attraktivsten und am besten ausgestatteten KI-Labors leider in anderen Ländern, die verstanden haben, dass KI die Schlüsseltechnologie des dritten Jahrtausends ist.
Was raten Sie der Schweiz?
Die Schweiz mit nur einem Promille der Weltbevölkerung ist noch immer ein höchst innovatives Land mit hervorragenden Universitäten und der weltweit höchsten Dichte an Nobelpreisträgern. Aber zumindest manche Schweizer Kantone hätten meiner Ansicht nach sehr davon profitieren können, mit relativ wenig Aufwand auf ihrem einstigen Vorsprung in der KI-Forschung aufzubauen und noch attraktiver für Akademiker und Firmengründer im KI-Bereich zu werden. Da wurde etwas versäumt. Aber es ist nie zu spät! (aargauerzeitung.ch)