Es war eine Machtdemonstration des türkischen Staates gegen die Protestbewegung im Land – und sie hat gewirkt. Mit einem massiven Aufgebot von tausenden Polizisten liess Regierungschef Recep Tayyip Erdogan am Samstag in Istanbul Kundgebungen von Regierungsgegnern zum Jahrestag der Gezi-Proteste unterbinden.
Mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gingen Beamte gegen Demonstranten vor, mehr als 200 Menschen wurden nach Angaben von Aktivisten vorübergehend festgenommen.
Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gab es auch in der Hauptstadt Ankara und im südtürkischen Adana. Die Organisation «Taksim-Solidarität» hatte ihre Anhänger zu Massenprotesten aufgerufen, um an den Ausbruch der Gezi-Unruhen vor einem Jahr zu erinnern.
Starke Polizeikräfte sperrten den Gezi-Park und den angrenzenden Taksim-Platz ab. In den umliegenden Strassen lieferten sich Polizisten und Demonstranten teilweise heftige Strassenschlachten. Polizisten in zivil prügelten mit Schlagstöcken auf Demonstranten ein. Aus den Reihen der Protestierenden wurden Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen. Bis in die Nacht hinein lieferten sich kleinere Gruppen Demonstranten Scharmützel mit der Polizei.
Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, alleine in der Umgebung des Taksim-Platzes seien 7500 Polizisten und 50 Wasserwerfer eingesetzt gewesen. Insgesamt seien in Istanbul 25'000 Polizisten im Einsatz gewesen. Der regierungskritische Anwaltsverband CHD berichtete von zeitweise 203 Festnahmen; der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok gab die Zahl mit etwa 120 an. Auch ein Reporter des US-Senders CNN wurde vorübergehend festgenommen.
Anadolu berichtete, vier Polizisten seien verletzt worden, einer davon durch ein Geschoss, ein anderer durch einen Molotowcocktail. Türkische Medien berichteten von mehreren verletzten Demonstranten.
Intensität und Dauer der Auseinandersetzungen erreichten aber bei weitem nicht die Dimensionen der Zusammenstösse des vergangenen Jahres. Auch lag die Zahl der Demonstranten weit unter der des vergangenen Jahres. Polizeichef Altinok sprach danach von einem «schönen Tag». Die Beteiligung an den Protesten sei nicht besonders hoch gewesen, sagte er bei einer Inspektion seiner Truppen, die am Samstagabend weiter die Umgebung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks abriegelten.
Nach Medienberichten wurde der Gezi-Park nach Mitternacht wieder für die Öffentlichkeit freigegeben. Am Sonntagmorgen blieb die Lage in der Stadt ruhig. Erdogan hatte in einer Rede am Samstag vor einer Teilnahme an den Protesten gewarnt und harte Massnahmen der Polizei angekündigt. Burhan Kuzu, ein führender Politiker der Erdogan-Partei AKP, lobte die Polizei für ihren Einsatz.
Die Proteste im vergangenen Sommer hatten sich an Plänen der Regierung entzündet, den Gezi-Park am Rande des Taksim-Platzes zu bebauen. Am 31. Mai vor einem Jahr schlugen sie in landesweite Proteste um, die sich vor allem gegen den autoritären Regierungsstil Erdogans und die eskalierende Polizeigewalt richteten. Die Gezi-Proteste kosteten mindestens sieben Menschen das Leben.
Der 20-jährige Demonstrant Öguz Demir sagte mit Blick auf die Toten der Gezi-Proteste 2013 und das Grubenunglück von Soma am 13. Mai: «Wir wollen an die Toten von Gezi und Soma erinnern, aber man lässt uns nicht auf den Taksim. Was ist das für ein Staat?» Die 29-jährige Lehrerin Nesrin Özgür kritisierte: «Erdogan hat das Land gespalten. Jeder, der seine Menschenrechte einfordert, wird festgenommen.» (dhr/sda/afp/dpa)