Die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong ist in Aufruhr. Seit Tagen demonstrieren Zehntausende für mehr Demokratie. Am Sonntag kam es zu Ausschreitungen mit der Polizei, doch die Demonstranten lassen sich nicht vertreiben. Was aber steckt hinter den Protesten in Hongkong? Ein Überblick:
Warum ist Hongkong anders als China?
Die Insel Hongkong und die angrenzenden New Territories auf dem Festland waren während mehr als 150 Jahren eine britische Kronkolonie. Sie gewährte keine demokratischen Wahlen, aber ein relativ hohes Mass an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Am 1. Juli 1997 erfolgte die Rückgabe an die Volksrepublik China. Diese verpflichtete sich in einem Vertrag, Hongkong während 50 Jahren nach dem Modell «Ein Land, zwei Systeme» als Sonderverwaltungszone zu behandeln.
Die Übergabe Hongkongs an China am 1. Juli 1997.Bild: AP
Die Wirtschaftsmetropole mit rund sieben Millionen Einwohnern geniesst ein hohes Mass an Autonomie, mit einer eigenen Justiz und Währung (Hongkong-Dollar) sowie Meinungs- und Pressefreiheit. Das Internet wird anders als auf dem Festland nicht zensiert. Nicht erfüllt hat Peking bislang das Versprechen, dass die Hongkonger ihren Verwaltungschef frei wählen dürfen. Er wird durch eine Kommission bestimmt, die Kritiker als mehrheitlich China-hörig bezeichnen.
Was war der Auslöser der aktuellen Proteste?
Die Führung in Peking hoffte, dass die Hongkonger mit der Zeit das chinesische Regime akzeptieren würden. Doch das Gegenteil ist der Fall, es kam in den letzten 17 Jahren zu einer wachsenden Entfremdung. Im Januar 2013 gründete der Universitätsprofessor Benny Tai die Bewegung Occupy Central with Love and Peace, benannt nach dem Hongkonger Finanzdistrikt. Sie sollte die Forderung nach allgemeinen und freien Wahlen vorantreiben.
Benny Tai, der Gründer von Occupy Central.Bild: BOBBY YIP/REUTERS
Im August gab Peking nach. Der nächste Hongkonger Regierungschef soll 2017 durch das Volk gewählt werden. Zugelassen sind jedoch nur Kandidaten, die von einer speziellen Kommission ausgewählt werden. Die Hongkonger empfinden dies als Affront. Occupy Central bereitete für den 1. Oktober, den chinesischen Nationalfeiertag, die Besetzung des Stadtzentrums vor. Doch letzte Woche entstand durch einen Unterrichtsboykott von Schülern und Studenten eine Eigendynamik, weshalb die Aktion bereits am Sonntag begann.
Gibt es weitere Gründe für den Unmut?
Ein Zustrom von reichen Chinesen vom Festland überfüllt Spitäler, Schulen und Einkaufszentren, treibt die Immobilienpreise in die Höhe und die Hongkonger in die Ecke. Die sozialen Unterschiede wachsen. Die einfachen Menschen verlieren das Gefühl, dass die Regierung sie schützt und ihre Interessen vertritt. Korruption lässt das Vertrauen in den einst viel gerühmten öffentlichen Dienst schrumpfen, die grossen Medien werden als zunehmend Peking-freundlich wahrgenommen.
Steht ganz Hongkong hinter den Protesten?
In einer Umfrage der renommierten Chinesischen Universität Hongkong sprachen sich nur 31 Prozent für Occupy Central aus, 46 Prozent lehnten die Bewegung ab. Peking-treue Gruppen berufen sich darauf, die «schweigende Mehrheit» der Bevölkerung zu vertreten. Sie führten am 17. August eine Grossdemonstration durch. Allerdings gab es Berichte, wonach die Teilnehmer teilweise bezahlt wurden.
Pro-China-Kundgebung am 17. August.Bild: ALEX HOFFORD/EPA/KEYSTONE
Hongkongs Wirtschaftselite ist ebenfalls mehrheitlich gegen die Proteste. Sie hat sich unter anderem in Zeitungsinseraten davon distanziert und der Führung in Peking ihre Loyalität bekundet. Auch viele «gewöhnliche» Hongkonger fürchten, dass die Proteste dem Image der «Kapitalismus-Hochburg» schaden und den Wohlstand gefährden könnten.
Wie reagiert China?
Die kommunistische Führung in Peking gibt sich kompromisslos. Ein Sprecher verurteilte die Proteste in Hongkong am Montag als illegal. Der neue Staats- und Parteichef Xi Jinping fährt bei den Menschenrechten einen harten Kurs. Für Empörung sorgte letzte Woche die Verurteilung des Bürgerrechtlers Ilham Toti zu lebenslanger Haft. Er hatte sich mit friedlichen Mitteln für die Rechte der muslimischen Uiguren eingesetzt.
Chinas Staatschef Xi Jinping fährt bei den Menschenrechten einen harten Kurs.Bild: JORGE SILVA/REUTERS
Die Hongkonger Proteste stürzen Xi nach Ansicht von Beobachtern in ein Dilemma. Peking fürchtet ein Überschwappen der Demokratiebewegung auf das Festland. Die staatlich kontrollierten Medien berichten entsprechend zurückhaltend. Sie kritisieren die Besetzung der öffentlichen Plätze, ohne sie allzu stark zu thematisieren. Die Internet-Zensur wurde laut «Wall Street Journal» verschärft. Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, wurden seit Sonntag deutlich mehr Einträge gelöscht als gewöhnlich, vor allem solche, die sich mit Occupy Central solidarisieren.
Ist ein Tiananmen-Szenario möglich?
Die letzte grosse Demokratiebewegung in China wurde 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking blutig niedergeschlagen. Ein solches Ende könnte auch der Hongkonger Occupy-Bewegung blühen. Die chinesische «Volksbefreiungsarmee» unterhält einen Stützpunkt in der Stadt. In der Nachbarprovinz Guandong ist zudem ein Kontingent der paramilitärischen Polizei stationiert, die für die Niederschlagung von Unruhen ausgebildet ist.
Soldaten bewachen die Kaserne der chinesischen Armee in Hongkong.Bild: ALEX HOFFORD/EPA/KEYSTONE
Dennoch halten Beobachter ein Tiananmen-Szenario für unwahrscheinlich. Mehr als alles andere wolle die Führung in Peking einen blutigen Konflikt vermeiden, sagte Dingding Chen von der Universität Macao dem «Wall Street Journal». Zu gravierend sind die möglichen Konsequenzen für die Wirtschaft Chinas und Hongkongs. Dessen Regierungschef Leung Chun-ying schloss am Dienstag aus, dass Sicherheitskräfte des Festlandes eingesetzt werden könnten: «Wenn in Hongkong ein Problem entsteht, sollten unsere Polizeikräfte in der Lage sein, es zu lösen.»
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Was wäre ein möglicher Ausweg?
Bislang deutet nichts auf ein Einlenken Pekings hin. Die Proteste könnten Chinas Führer nicht dazu bewegen, ihre Entscheidung zurückzuziehen, nur begrenzte Wahlen in Hongkong zu erlauben, sagte Leung Chun-ying. Analysten verweisen allerdings darauf, dass sich die chinesische Regierung in ihren öffentlichen Statements der letzten Tage nicht hinter den umstrittenen Leung gestellt hat, der als schwache Figur und «Marionette» Pekings gilt.
Leung Chun-ying, der umstrittene Regierungschef von Hongkong.Bild: AFP
Bereits einmal konnte die Hongkonger Bevölkerung die Pekinger Führung zum Einlenken zwingen. 2003 kam es zu Massenprotesten gegen ein umstrittenes neues Sicherheitsgesetz. Es wurde zurückgezogen, der erste nachkoloniale Verwaltungschef Tung Chee-hwa musste gehen. Wie ein Kompromiss bei den aktuellen Protesten aussehen könnte, ist allerdings völlig unklar.
Was bedeuten die Regenschirme?
Demonstranten schützen sich vor der Polizei.Bild: BOBBY YIP/REUTERS
Viele Demonstranten hatten einen Regenschirm dabei, zum Schutz vor Tränengas und Wasserwerfern. Daraus entstand der Begriff «Regenschirm-Revolution», samt dem zugehörigen Hashtag #UmbrellaRevolution.
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