Barack Obama durchlebt schwere Zeiten. Knapp zwei Jahre nach seiner glanzvollen Wiederwahl sieht sich der US-Präsident unter Beschuss von allen Seiten, selbst aus den eigenen Reihen. Seine Beliebtheitswerte bewegen sich im Bereich von 40 Prozent. Bei den Kongresswahlen am 4. November haben die Republikaner beste Chancen, neben dem Repräsentantenhaus auch die Mehrheit im Senat zu erobern.
Demokratische Bewerber, die um ihren Sitz bangen, wollen Obama nicht als Wahlhelfer an ihrer Seite sehen – als zu riskant erachten sie seine Präsenz. Irgendwie kann es Obama niemandem recht machen. Die Wirtschaft wächst endlich wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt. Doch viele Amerikaner merken nichts davon, vor allem nicht im Portemonnaie. Besonders scharf sind die Attacken auf die Aussenpolitik des Präsidenten.
Selbst Ex-Präsident Jimmy Carter, kürzlich 90 Jahre alt geworden, verschont seinen Nachfolger und Parteifreund nicht mit Kritik. Er könne sich keinen Reim auf Obamas Politik im Nahen Osten machen, sagte Carter der texanischen Zeitung «Fort Worth Star-Telegram». Diese sei sprunghaft, meinte er sinngemäss. Die USA hätten «zu lange gewartet», bis sie gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgegangen seien: «Wir liessen zu, dass sie sich in Syrien formieren und danach in den Irak vordringen konnte.»
Jimmy Carters Breitseite ist nicht das einzige Beispiel für «Friendly Fire» gegen den Präsidenten. Besonders scharfes Geschütz fährt Leon Panetta auf. Er diente Obama erst als CIA-Direktor und danach als Verteidigungsminister. In seinem Memoiren mit dem Titel «Worthy Fights» (Würdige Kämpfe), die er derzeit auf allen Kanälen bewirbt, geht Panetta mit dem einstigen Boss hart ins Gericht.
Der vollständige US-Abzug aus dem Irak Ende 2011 sei ein Fehler gewesen. Obama habe «den Irak unbedingt loswerden wollen» und es deshalb versäumt, die dortige Regierung unter Druck zu setzen, damit sie dem Verbleib eines Kontingents von einigen Tausend US-Soldaten zustimmt, schreibt Panetta. Weiter kritisiert er die Weigerung des Präsidenten, die gemässigten Rebellen der Freien Syrischen Armee gegen das Assad-Regime zu bewaffnen. Beide Versäumnisse hätten zum Aufstieg des Islamischen Staats beigetragen.
Im Weissen Haus reagiert man auf Leon Panettas Buch entsprechend gereizt. Ein hochrangiges Regierungsmitglied warf dem Ex-Minister gegenüber Politico fehlende Loyalität und sogar «Geschichtsklitterung» vor. So habe Panetta selber Bedenken geäussert, dass Waffen für die Aufständischen in Syrien in die Hände radikaler Islamisten gelangen könnten. Seine Beteuerung, er wolle dem Präsidenten mit der Kritik nur helfen, sei «unglaublich herablassend».
Der Ärger ist verständlich, denn Panetta ist das dritte Ex-Regierungsmitglied, das Obama in den Rücken fällt. Robert Gates, Panettas Vorgänger als Verteidigungsminister, hatte die Entscheide des Präsidenten in seinen Memoiren ebenfalls kritisiert. Und Ex-Aussenministerin Hillary Clinton bemüht sich im Hinblick auf ihre allgemein erwartete Präsidentschaftskandidatur 2016 um Distanz zum ungeliebten Amtsinhaber. In einem Interview erklärte sie, dessen aussenpolitisches Motto «Mach keine Dummheiten» sei «kein Grundprinzip einer grossen Nation».
Angesichts der aussenpolitischen Irrtümer der USA in den letzten Jahrzehnten ist ein Präsident, der erst denkt und dann schiesst, vielleicht nicht so schlecht. So gab es gute Gründe, sich nicht in den Hexenkessel des syrischen Bürgerkriegs zu begeben. Und der Vormarsch des IS im Irak wurde in erster Linie durch die Sturheit des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki ermöglicht, der die Sunniten konsequent ausgrenzte, und nicht durch das Fehlen einer US-Truppenpräsenz.
Selbst die «Heckenschützen» rühmen Barack Obamas überragende Intelligenz. Doch das ist ein Teil des Problems. Wie viele gescheite Menschen neigt Obama dazu, die Macht des vernünftigen Arguments zu überschätzen. «Logik funktioniert nicht in Washington», sagte Leon Panetta in einem CNN-Interview. Man müsse die Leute zu ihrem Glück zwingen. Auch studiert Obama in heiklen Fällen oft lange an einem Problem herum, statt eine Entscheidung zu fällen. Ihm fehlt laut Panetta das «Feuer», das Führungspersönlichkeiten auszeichne.
So entsteht das Image des professoralen Zauderers. Doch ist Barack Obama wirklich ein kompletter Versager? Einer, der ihn oft kritisierte, hält dagegen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman bricht in der aktuellen Ausgabe des Magazins «Rolling Stone» unter dem Titel «In Defense of Obama» eine Lanze für den Commander-in-Chief. Mehr noch: Er bezeichnet Obama als «einen der erfolgreichsten Präsidenten in der Geschichte Amerikas».
Die Belege für dieses Urteil findet Krugman in der Innenpolitik: Die Gesundheitsreform Obamacare sei ein grosser Erfolg und habe «Dutzenden Millionen Amerikanern geholfen». Die Reichen müssten mehr Steuern zahlen, die Umweltvorschriften seien verschärft worden, und die Bankenreform, das so genannte Dodd-Frank-Gesetz, sei unvollkommen, aber «ein Schritt in die richtige Richtung». Ergänzend liefert «Rolling Stone» einen Chart mit 55 Zahlen, die belegen sollen, dass Obama mehr erreicht habe, als man annehme.
Versager oder Triumphator? Es ist wie so oft Ansichtssache. Ist das Glas halb leer oder halb voll? Die Republikaner betonen ersteres. Sollten sie die vollständige Kontrolle über den Kongress übernehmen, so könnte sich das paradoxerweise als nützlich für den Präsidenten erweisen. Dieser Meinung ist Gerald Seib, Kolumnist des «Wall Street Journal». Die Republikaner müssten in diesem Fall Verantwortung übernehmen und könnten offener sein für Kompromisse.
Dies könnte sich als Wunschdenken erweisen, denn die Gräben zwischen den politischen Lagern in den USA sind so tief wie nie seit dem 19. Jahrhundert. Bis zum Ende von Obamas Amtszeit sind es fast zweieinhalb Jahre, in dieser Zeit kann noch einiges geschehen, zum Besseren oder Schlechteren. Er wolle, dass Obama «eine Bilanz hinterlässt, die er als Präsident verdient», sagte Leon Panetta in einem Interview.
Das endgültige Urteil wird erst die Nachwelt fällen. Die Chancen sind intakt, dass es positiv ausfallen wird.