Wenige Folgen der Klimakrise kommen für Klimaforscher wirklich überraschend. Das Ausmass der aktuellen Entwicklungen in der Antarktis bildet da eine Ausnahme – und bereitet den Wissenschaftlern Kopfzerbrechen. Denn: Am Südpol ist derzeit tiefster Winter, minus 32 Grad Celsius zeigte das Thermometer an der deutschen Neumayer-Forschungsstation am Freitag.
Eigentlich sollten dort gerade grosse Mengen Meereswasser zu Eis gefrieren. Doch es friert viel zu wenig. Es fehlt eine Eisfläche der Grösse Argentiniens, dem achtgrössten Land der Erde, und niemand weiss genau, warum.
Schon im Februar – Sommer in der Antarktis – erreichte das Meereis einen Negativrekord: 1.79 Millionen Quadratkilometer schwammen noch auf dem Wasser. Üblich sind rund drei Millionen Quadratkilometer. Dass es im Sommer taut, ist normal – derart wenig Eis hatte es rund um den Kontinent aber seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1978 noch nie gegeben.
In den darauffolgenden Monaten wurde klar: Es war nicht nur ein Ausnahmesommer. Im diesjährigen antarktischen Herbst und Winter ist bislang weit weniger Meereis entstanden als normalerweise – noch weniger als im vergangenen Jahr, dem bisherigen Rekordtief. Im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt fehlen gerade mehr als zwei Millionen Quadratkilometer Eis.
Dabei hatte es lange so ausgesehen, als könnte die Antarktis der Klimakrise trotzen: Die Ausdehnung des Meereises nahm nach der Jahrtausendwende zu, 2014 erreichte sie ein Rekordhoch. Dann aber kippte der Trend, das vergangene Jahr verzeichnete ein Rekordtief. Eine langfristige Einordnung ist bislang kaum möglich – 45 Jahre Beobachtungszeitraum reichen dafür nicht aus.
Hinsichtlich eines Punktes sind sich die Wissenschaftler jedoch sicher: Die Erderhitzung und ihre Folgen werden auch in der Antarktis immer spürbarer – auch wenn nicht sicher ist, ob und in welchem Ausmass das zu langsame Wachstum des antarktischen Meereises tatsächlich auf die Klimakrise zurückzuführen ist. Dennoch sind die Forscher bereits alarmiert.
Um zu verstehen, wieso, lohnt sich ein Blick auf die Standardabweichung. Diese statistische Grösse beschreibt, wie stark sich die aktuelle Entwicklung von den Jahren zuvor abhebt. Werte über null signalisieren eine Entwicklung über dem Durchschnitt, Werte unter null entsprechen unterdurchschnittlichen Entwicklungen. Die Jahre 1978 bis 2022 bewegten sich in etwa zwischen plus und minus drei.
Und dann kommt 2023. Ende Juli lag die Standardabweichung bei minus 6.65. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Wert ohne die menschengemachte Klimakrise erreicht werden könnte, liegt bei 1 zu 70 Milliarden. Zum besseren Verständnis: Dass die aktuelle Lage in der Antarktis ein natürliches Phänomen ist, ist sogar noch 50 Mal unwahrscheinlicher, als mit einem Los den Hauptgewinn im Lotto abzuräumen.
Vor allem im Weddellmeer, in der D'Urville-See sowie der Bellingshausensee fehlt Meereis. Im westlichen Rossmeer und der Amundsensee ist dagegen etwas mehr Eis vorhanden als im Durchschnitt.
Als Auslöser sind verschiedene Möglichkeiten in der Diskussion:
Vermutlich sind es tatsächlich mehrere Faktoren, die am Südpol zu einer fatalen Kombination führen.
Man unterscheidet in der Antarktis vier Arten von Eis: Das Landeis bedeckt 98 Prozent der Landfläche des Kontinents, an der mächtigsten Stelle ist es fast 4.8 Kilometer dick. Es besteht aus Gletschern und aus Eisschilden, die sich über Jahrtausende durch immer neuen Schnee gebildet haben. Die Küsten der Antarktis sind zu rund 75 Prozent umgeben von Schelfeis, den Ausläufern dieser Gletscher und Eisschilde, die auf dem Meer schwimmen. Durch abbrechendes Schelfeis entstehen Eisberge. Hinzu kommt das Meereis vor der Küste, um das es in diesem Artikel geht.
Welche Folgen die zu kleine Eisfläche nach sich ziehen wird, ist ebenfalls noch unklar. Aus bisherigen Erkenntnissen der Klimaforschung lassen sich jedoch bereits einige wahrscheinliche Auswirkungen erschliessen.
Der Jahreszyklus des Meereises an den Polen treibt Meeresströmungen an. Gefriert das Wasser an der Oberfläche, bleibt Salz zurück, wodurch sich die Dichte des darunterliegenden kalten Wassers erhöht. Dieses sinkt daher in tiefere Schichten ab und fliesst nach Norden. Diese Strömung ist ein entscheidender Antrieb der sogenannten thermohalinen Zirkulation, welche das Klima weltweit beeinflusst. Auf seinem Weg nimmt das Wasser zudem Nährstoffe auf, die marine Ökosysteme auf der ganzen Welt brauchen, und transportiert sie durch die Ozeane.
Auch vor Ort in der Antarktis wären die Ökosysteme betroffen: Krill bildet eine wichtige Nahrungsgrundlage für Meeressäuger, Fische und andere Tiere am Südpol. Die kleinen Krebstiere ernähren sich wiederum von Algen, welche im Winter auf der Unterseite des Meereises wachsen. Weniger Eis heisst somit auch weniger Krill – und weniger Nahrung für die Wale, Pinguine oder Robben.
Schon 2011 konnte eine Studie zeigen, dass der Rückgang der Adélie-Pinguine in der Westantarktis wahrscheinlich mit einem Mangel an Krill zusammenhängt. Dort geht die Eisdecke auf dem Meer teils schon seit rund 20 Jahren zurück.
Ausserdem reflektieren Eisflächen das Sonnenlicht und damit Wärme zurück in den Weltraum. Im Umkehrschluss heisst das: Weniger Eisfläche führt dazu, dass der darunterliegende, dunkle Ozean mehr Wärme aufnimmt. Das beschleunigt nicht nur die Erderhitzung, sondern könnte auch das Schmelzen anderer Eissorten in der Antarktis antreiben.
Dazu kommt: Das Meereis dient dem antarktischen Eispanzer als Schutzschild gegen die Kräfte des Ozeans. Fehlt es, wird das dahinterliegende Schelfeis mit seinen Gletschern anfälliger für Winde und Strömungen. Das Schelfeis wiederum stabilisiert das Landeis. Einige Forscher befürchten daher eine Kettenreaktion, sollte der Trend anhalten.
Das Schelfeis in der Antarktis schmilzt durch die Erderhitzung zunehmend rasant, immer öfter brechen massive Eisberge ab. Während das Meereis selbst keinen Einfluss auf den Meeresspiegel hat, da es selbst aus Meerwasser besteht, könnte losgelöstes Schelf- und Landeis diesen um mehrere Meter ansteigen lassen. Allein der Thwaites-Gletscher hat das Potenzial, den Meeresspiegel langfristig um einen Meter ansteigen zu lassen – und wird daher auch Doomsday-Gletscher genannt.
Es könnte also sein, dass die aktuellen Entwicklungen den Beginn eines neuen Kapitels der Antarktis markieren, das gravierende Auswirkungen für die ganze Welt haben könnte. Es könnte aber auch sein, dass der Zustand des Meereises nach den Ausnahmejahren 2022 und 2023 wieder zum Normalzustand zurückkehrt. Welches der beiden Szenarien wahrscheinlicher ist, ist allerdings noch völlig unklar.
Die aktuelle Abweichung ist aber so krass, dass sich für mich auch die Frage stellt, ob bereits ein gewisser klimatischer Kipppunkt erreicht wurde, welcher den aktuellen Zustand triggerte. Dann wäre die Hoffnung für eine Normalisierung klein. Die Frage, die sich dann stellt, ist, wie sich die neue Situation auf die Ozeane und das Klima weiter auswirken wird, und wie die Entwicklung in der Antarktis längerfristig weitergeht…