So langsam wird Marine Le Pen nervös. Ende September, als der Prozess gegen ihr «Rassemblement National» (RN) begonnen hatte, war sie noch mit siegessicherem Lächeln im Pariser Gerichtsgebäude erschienen. Als frühere Anwältin weiss sie, dass der Vorwurf, ihre Partei habe EU-Gelder illegal verwendet, schwer zu beweisen sein wird.
Aber jetzt, am zweiten Tag ihrer Einvernahme, wirkt die RN-Gründerin sehr angespannt. Oft hält es sie nicht mehr auf der Anklagebank. Immer wieder erhebt sie sich, um ihrem entfernt sitzenden Anwalt eine Instruktion zu überbringen; einmal reicht sie einer gerade verhörten Mitangeklagten eine Flasche Wasser.
Wie ein Raubtier im Käfig tigert sie in ihrer grünen Weste und mit ihren Absätzen gut hörbar durch den vorderen Teil des Gerichtssaals, als würde er ihr gehören. Und wenn sie es gar nicht mehr aushält, verlässt sie kurz den Raum, in dem schon so mancher historische Prozess – zu den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo oder gegen den Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy – stattfand.
Der Prozess gegen den RN, wie man die Partei in Frankreich nur nennt, ist nicht minder wegweisend. Es geht um Le Pens Karriere und Frankreichs Zukunft. Die blonde 56-Jährige will 2027 nach drei – zuletzt immer knapper gescheiterten – Anläufen bei den Präsidentschaftswahlen endlich in den Elysée-Palast einziehen.
Eine Ausländerfeindin im Pariser Machtzentrum und an der Spitze der Menschenrechtsnation, das können sich viele gar nicht vorstellen. Auch nicht in Brüssel oder Berlin, wo man sich bewusst ist, dass schlagartig Schluss wäre mit der innereuropäischen oder deutsch-französischen Freundschaft. An ihre Stelle träte dann vielleicht eine transatlantische Achse Trump-Le Pen. Gegen die Nato, gegen die EU. Und für Putin?
Doch diese düsteren Aussichten könnten bei dem seit Ende September laufenden RN-Prozess noch umgestürzt werden. Je länger die Einvernahmen der 25 angeklagten RN-Vertreter dauern, desto offener tritt der strafrechtliche Sachverhalt zutage. Vor allem bei der Einvernahme von Le Pens früherer Assistentin Catherine Griset: Sie bezog ihr Salär vom EU-Parlament in Strassburg, war aber de facto in Paris für die Partei tätig.
Zwischen Oktober 2014 und August 2015, also in elf Monaten, verbrachte Griset laut den Badge-Uhren insgesamt nur zwölf Stunden im europäischen Parlament. Trotzdem bezog die heutige Europaabgeordnete monatlich ein Salär aus der EU-Kasse. Auch Le Pens Leibwächter wurde als EU-Assistent geführt.
Der Tatbestand der Veruntreuung von EU-Geldern wäre damit erfüllt, hält die Richterin nüchtern fest. Marine Le Pen springt wieder auf. Aber sie muss schweigen, noch ist sie nicht an der Reihe.
Als sie am Mittwoch endlich in den Zeugenstand tritt, hält sich die RN-Chefin nicht mehr zurück. Es sei gar nicht möglich, zu unterscheiden, ob eine Assistentin für die EU-Abgeordnete Le Pen oder für die Parteichefin Le Pen tätig sei, sagt sie. Der Anwalt der EU kontert, Le Pen habe selber erklärt, dass solche Assistenten bisweilen «auch nur für die Partei» arbeiten könnten – was illegal wäre.
Le Pen bestreitet «in aller Form», eine solche Erklärung jemals abgegeben zu haben. Pech für sie: Der Anwalt der Gegenseite verweist auf ein schriftliches Einvernahmeprotokoll, in dem Le Pen genau diese Aussage getätigt hatte.
In die Enge getrieben, gerät die RN-Gründerin zunehmend ausser sich. Als die Richterin fragt, warum die Assistenten nicht in Strassburg oder Brüssel übernachteten, sondern in der Pariser Villa von Vater Jean-Marie Le Pen, erwidert sie: «Ja, wo hätte ich sie denn sonst unterbringen sollen? Im Garten, oder in einer Hundehütte?»
Die Richterin fragt ruhig, ob Marine Le Pen Beherbergungsbelege habe. Hat sie nicht: «Frau Richterin, wenn ich all die Tonnen Papiere behalten hätte, könnte ich damit ein Schloss bauen!»
Dann tut die Hauptangeklagte, was kein vernünftiger Mensch tut – sie greift die Richterin an: «Sie haben doch null Beweise. Uns hingegen auferlegt man, Beweise für unsere Unschuld beizubringen. Das heisst, die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr. Für uns gilt jetzt die Schuldvermutung!»
Die Angeklagten gefallen sich als Opfer eines «politischen Prozesses». Der RN ist allerdings nicht als einzige Partei ins Visier der Justiz geraten. Ende 2023 wurde die französische Mittepartei Modem wegen des gleichen Finanztricks verurteilt.
Der Prozess gegen die 25 RN-Mitglieder dauert noch bis im November; das Urteil wird erst im nächsten Jahr erwartet. Marine Le Pen droht eine Busse und eine womöglich bedingte Haftstrafe. Gravierender: Als zentrale Figur des Veruntreuungssystems könnte sie fünf oder zehn Jahre lang unwählbar werden. Das wäre vermutlich ihr politisches Ende. Umso bitterer für die dominierende Politikerin Frankreichs, die nach der Ära Macron die besten Wahlchancen hätte.
(aargauerzeitung.ch)
Dieses Verhalten sollte ihr vor Gericht untersagt werden.