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Flyer gegen Belästigung von Frauen sorgt in Frankreich für Empörung

«Ist das ein Witz?» – Flyer gegen Belästigung von Frauen sorgt in Frankreich für Empörung

03.06.2023, 07:5604.06.2023, 16:06
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Vier von fünf Frauen in Frankreich werden Opfer sexueller Belästigung im öffentlichen Raum – dem Phänomen hat das Innenministerium in Paris nun den Kampf angesagt. Dass die Polizei dafür den Sommer über aber fünf Millionen Flyer ausgerechnet mit an Frauen gerichteten Ratschlägen verteilt, stösst vielen übel auf.

Vielmehr müssten die Behörden die Täter – die Männer – ins Visier nehmen, schimpfen Frauenorganisationen. Und auch die Empfehlung, Übergriffe und Belästigungen auf der Wache anzuzeigen, sorgte für Stirnrunzeln. Denn die Beamten dort seien vielfach im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Frauen überhaupt nicht geschult, hiess es.

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«Machen Sie Krach und alarmieren Sie Menschen um sich herum», wird belästigten Frauen auf dem Flyer geraten, der seit Dienstag in ganz Frankreich verteilt wird. «Suchen Sie Hilfe und bringen Sie sich an einem sicheren Ort in Schutz», heisst es weiter. Ausserdem führt ein QR-Code auf dem Flyer zu einer Website, über die Betroffene Vorfälle melden und rund um die Uhr mit Beamten zu dem Thema chatten können. Zeugen werden zudem ermuntert, einzuschreiten, die Polizei zu rufen und sich um betroffene Frauen zu kümmern.

«Habe mich gefragt, ob das ein Witz ist»

«Ich habe mich gefragt, ob das nicht ein Witz ist», sagte die Präsidentin der Nationalen Union der Familien von Femiziden, Sandrine Bouchait, der Zeitung «Le Parisien». «Man sagt uns, dass man zum Schutz von Frauen Flyer verteilen wird. Ich stelle mir vor, dass sie diese zusammenknüllen und auf ihre Angreifer werfen.» Ausserdem verlagere der Flyer die Verantwortung auf die Frau. «Man wird ihr sagen, dass das nicht passiert wäre, wenn sie dieses oder jenes nicht getan hätte.»

Dass die Polizei dafür den Sommer über aber fünf Millionen Flyer ausgerechnet mit an Frauen gerichteten Ratschlägen verteilt, stösst vielen übel auf.
Dass die Polizei dafür den Sommer über aber fünf Millionen Flyer ausgerechnet mit an Frauen gerichteten Ratschlägen verteilt, stösst vielen übel auf.

Die Organisation Stopp Strassenbelästigung führte an, dass viele Frauen keine Anzeige erstatten wollten, weil sie kein Vertrauen in die Polizei hätten. Frauen würden auf dem Kommissariat oft schlecht behandelt, was ihr Trauma noch verstärke. Zu dem Ergebnis war 2021 bereits die Frauenorganisation #NousToutes gekommen, die Frauen nach ihren Erfahrungen gefragt hatte beim Versuch, sexuelle Gewalt bei der Polizei anzuzeigen. Die meisten fühlten sich demnach nicht gut behandelt.

Auch Kritik in sozialen Medien

«Der Flyer richtet sich an Opfer und auch an Zeugen, was eine gute Sache ist, aber nicht an Täter», erklärte Stopp Strassenbelästigung weiter. «Wenn man aber davon ausgeht, dass der Flyer an alle verteilt wird, warum dann nicht auch eine Botschaft, die die Täter zur Verantwortung zieht?»

Auch in den sozialen Medien hagelte es Kritik. «Ich werde die komischen Typen, die mir abends folgen, wenn ich nach Hause gehe, mit den Flyern bewerfen», schrieb Nutzerin Alaskat auf Twitter. «Das ist ein grosser Witz», reagierte Collet. «Fangen Sie damit an, die Angreifer von Frauen und Kindern angemessen zu bestrafen.»

«Es ist erbärmlich und betrüblich»

Die Frauen wollten keine Flyer, sie wollten gehört und beschützt werden, schrieb eine andere Nutzerin. «Es ist klar, dass wir eine millionenschwere Kampagne brauchen, um zu lernen, dass man schreien und sich in Sicherheit bringen soll, wenn man angegriffen wird», schrieb Catherine. «Es ist erbärmlich und betrüblich. Geben Sie den Organisationen das Geld für echte und effektive Aktionen.»

Auch Innenminister Gérald Darmanin, der die Flyer-Kampagne ins Leben rief, wurde zur Zielscheibe von Kritik. Denn wegen mutmasslicher Vergewaltigung stand der Minister im Visier der Justiz, die Ermittlungen wurden aber eingestellt. (cst/sda/dpa)

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67 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Jep.
03.06.2023 08:10registriert Januar 2022
Kein potentieller Täter wird je von einem Flyer abgehalten. Aber Tipps an potentielle Opfer und Zeugen könnten vielleicht helfen, wenn es dazu kommt. So schlecht ist die Idee nicht.
Wer Opfern eine Schuld gibt, hat das auch vor dem Flyer getan (zu kurzer Rock, ein Lächeln, Blickkontakt, geboren worden zu sein, etc.).
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mrmikech
03.06.2023 08:30registriert Juni 2016
Auch wenn es schwierig ist und man sich von der Polizei nicht verstanden fühlt, immer Anzeige erstatten. Ich habe es auch getan, und zwar mit Erfolg. Im Nachhinein finde ich es verständlich, dass die Polizei nicht so reagiert, wie man es sich erhofft, sie beschäftigt sich ständig mit solchen Fällen und ist oft überfordert. Damit sich das Erlebte nicht festsetzt, ist es am besten, so schnell wie möglich psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
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Walter Sahli
03.06.2023 08:35registriert März 2014
Lasst mich raten. In Frankreich gibt es eine grosse rechte Partei, die einen Benimm-Flyer für Männer und einen Erziehungsratgeber für Eltern ("Wie erziehe ich meinen Sohn zu einem anständigen Mann und nicht zu einem AL"), als "woke" bezeichnen und dagegen Wahlkampf machen würde.
Zumindest in der Schweiz wäre es ganz sicher so.
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