Die Anspannung in der Türkei ist gross. Das Land wählt an diesem Sonntag einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Für Recep Tayyip Erdoğan wird es eng, er wird sich laut Meinungsumfragen mit dem Spitzenkandidaten der kemalistischen CHP Kemal Kılıçdaroğlu ein enges Rennen liefern. Die grossen konkurrierenden Wahlallianzen sind sich nur vor allem in einem Punkt einig: Für die Türkei ist es eine Schicksalswahl.
Nach 20 Jahren als Präsident kann es bei dieser Türkei-Wahl tatsächlich so weit sein: Erdoğan könnte aus seinem Staatspalast ausziehen müssen. Für sein Land wäre es das Ende einer Ära, eine politische Zeitenwende. Aber die Nervosität in der Bevölkerung ist gross. Es gibt durchaus Angst und Respekt vor diesem möglichen Knall. Denn in Teilen der türkischen Politik gibt es kaum Vorstellungen darüber, wie es dann weitergehen soll.
Die Opposition in der Türkei hat vor allem ein Ziel: Erdoğan bei einer Wahl besiegen.
Doch die Frage, ob die sechs Parteien im Bündnis von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu über die Legislatur eine stabile Regierung aufbauen können, ist unklar. Auch fraglich ist, ob Erdoğan bei einer Wahlniederlage einen friedlichen Machtwechsel einleiten würde. In jedem Fall stehen der Türkei nach dieser Wahl stürmische bis chaotische Zeiten bevor. Deshalb blicken auch die internationalen Partner gespannt auf das, was in den kommenden Wochen in dem Nato-Land passiert.
Die türkische Gesellschaft ist nach Jahren der Erdoğan-Herrschaft tief gespalten, auch deswegen ist das gegenseitige Misstrauen vor dieser Wahl gross. Der türkische Präsident hat in den vergangenen zehn Jahren ein Herrschaftssystem aufgebaut, das auf ihn zugeschnitten ist und ihm möglichst grosse Macht sicherte. Er griff die Pressefreiheit an, die Justiz ist nicht mehr unabhängig, die Gewaltenteilung und damit auch die türkische Demokratie sind stark beschädigt.
Die Gegner von Erdoğans islamistisch-konservativer Partei AKP trauen der türkischen Regierung deshalb nicht, dass die Auszählung der Stimmzettel bei dieser Wahl ohne Komplikationen ablaufen wird. Die Folge: Viele Menschen haben sich freiwillig als Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter gemeldet, möchten die Zahlen am Wahlabend überprüfen. «Wir haben viel Zulauf», sagte Gonca Açıkalın von der Organisation «Die Wahlstimme und mehr» dem ARD-«Weltspiegel».
Zumindest die grössten Parteien – die AKP und die kemalistische CHP – möchten Beobachter in alle Wahllokale entsenden. Hinzu kommen ehrenamtliche Beobachter und auch die OSZE ist zur Überprüfung der Wahl im Land. Die Umfragen der vergangenen Monate zeigen, dass es zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu knapp ausgehen könnte. Deswegen zählt jede Stimme und jede Stimme soll auch ordnungsgemäss zählen. Eine Übersicht über die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl finden Sie hier.
Auch wenn Umfragen in der Türkei durch ihre Parteinähe oft von der tatsächlichen politischen Stimmung abweichen können, liegt Kılıçdaroğlu in einem Grossteil der Erhebungen in Führung. Anfangs wurde der Kandidat belächelt, weil er noch nie eine Wahl gewonnen hat. Doch ihm ist es im Wahlkampf gelungen, sich als Gegenmodell von Erdoğan zu inszenieren.
Er predigt von Liebe und teilt in den sozialen Netzwerken Videos aus seiner bescheidenen Küche, während Erdoğan aus einem Palast herrscht. Damit hat er dem Präsidenten den Wind aus den Segeln genommen. Denn auch Erdoğan musste daraufhin weniger über seine Gegner schimpfen und versöhnlichere Töne anstimmen, manchmal sogar mit einem Lied.
Trotzdem ist der amtierende Präsident ein guter Wahlkämpfer. In der Vergangenheit schaffte er es bei Wahlen immer wieder von seinen persönlichen Beliebtheitswerten zu profitieren. Doch diesmal scheint es anders – und dafür gibt es Gründe:
In der Summe wären all diese Punkte zusammen in vielen Ländern wahlentscheidend, in der Türkei sind sie es allerdings vielleicht nicht. Noch immer besitzt Erdoğan einen grossen Rückhalt in der Gesellschaft. Das liegt auch daran, dass die Opposition inhaltlich kaum eigene Konzepte vorgelegt hat. Kılıçdaroğlus Botschaft: Er möchte es anders machen als die aktuelle türkische Regierung. Aber wie, bleibt in vielen Punkten offen.
Ein Beispiel dafür ist die Flüchtlingspolitik. Kılıçdaroğlu kündigte zwar an, den Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union neu verhandeln zu wollen und dass er 3.5 Millionen Geflüchtete nach Syrien zurückschicken möchte. Aber er macht die Rechnung bisher ohne den syrischen Diktator Baschar al-Assad, der als Gegenleistung verlangt, dass die türkischen Truppen vom syrischen Staatsgebiet abrücken. Eine Einigung ist nicht in Sicht.
Diese unkonkreten politischen Ideen des Oppositionsbündnisses führen dazu, dass die AKP im Wahlkampf vor Chaos warnen kann. Erdoğans Partei bedient das Narrativ, dass gläubigen Muslimen bei einem Machtwechsel das Recht genommen werden würde, ihren Glauben öffentlich auszuleben. Kılıçdaroğlu hat das nicht vor, aber es war die AKP, die nach ihrer Gründung vor über 20 Jahren vielen Konservativen in der Türkei eine politische Stimme gab. Vorher war beispielsweise das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Gebäuden oder an Universitäten verboten gewesen.
Vor allem die konservativen Wählerschichten sehen Erdoğan als Verteidiger ihres Glaubens und das sicherte dem Amtsinhaber treue Anhänger, aller wirtschaftlichen Probleme zum Trotz.
Das politische Chaos in der Türkei droht unabhängig von der Opposition. Es kämpfen zwei Wahlbündnisse gegeneinander – mit Parteien, die bei der Präsidentschaftswahl auf eigene Kandidaten verzichten und ihre Anhänger dazu aufrufen, Erdoğan oder Kılıçdaroğlu zu wählen. Diese Unterstützung ist natürlich nicht umsonst: So müsste Erdoğan zum Beispiel Zugeständnisse gegenüber der rechtsextremen MHP machen.
Noch grösser ist die Aufgabe für Kılıçdaroğlu: Der CHP-Politiker müsste auch als Präsident von sechs Parteien gestützt werden. Darunter sind die konservative Kräfte wie iYi, aber auch kleinere Splitterparteien, die nationalistisch und antisemitisch auftreten, sind dabei.
Eine weitere Herausforderung für Kılıçdaroğlu als Präsidenten könnte werden, dass die AKP weiterhin stärkste Kraft im Parlament werden könnte. Für neue Gesetzesentwürfe bräuchte er dann auch die prokurdische HDP für eine Mehrheit. All diese Parteien hinter eine Regierungspolitik zu bringen, könnte schwierig werden. Doch das übergeordnete Ziel scheint zunächst einmal zu sein, Erdoğan in den politischen Ruhestand zu zwingen.
Letztlich ist der Sieg über den Langzeitpräsidenten und das Beenden der Ära Erdoğan für die Opposition die erste grosse Hürde. Die Angst, dass der türkische Präsident und seine Anhänger eine Niederlage nicht kampflos akzeptieren, ist vielleicht auch deshalb gross.
Deshalb forderte Kılıçdaroğlu die türkischen Bürger bereits dazu auf, am Wahlabend zu Hause zu bleiben, um Ausschreitungen zu vermeiden. Die Türkei erlebte oft Militärputsche, gewaltsame Unruhen und zu oft rollten türkische Panzer über Strassen und Brücken der Grossstädte. Aufgrund der Vergangenheit haben wahrscheinlich viele Menschen Angst, dass eine derartige politische Zeitenwende wie das Ende der Ära Erdoğans nur gewaltsam vollzogen werden kann.
In welche Richtung das Land steuert, bleibt also unklar. Vor allem die Nato-Partner möchten nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich in die Wahl einmischen möchten. Das könnte Erdoğan ermöglichen, eine Niederlage mit der Wahlmanipulation durch den Westen zu begründen, erfuhr t-online aus diplomatischen Kreisen.
Klar ist: Für die EU wäre Kılıçdaroğlu der Kandidat, der bei einem Wahlsieg den Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara wieder neuen Schwung geben könnte. Der russische Präsident Wladimir Putin dagegen fürchtet, mit Erdoğan einen Verbündeten zu verlieren. Das Wahlergebnis am Sonntag wird also Folgen haben, weit über die Türkei hinaus.
Verwendete Quellen:
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