Hey Myrta, wie geht es Dir?
Myrta Grubenmann: Mir geht es den Umständen entsprechend gut, ich bin mit einem Schock davongekommen.
Wo warst du gestern, als die Explosion passierte?
Ich war zuhause, etwa einen Kilometer vom Hafen, wo die Explosion stattfand, entfernt. Wir hörten und spürten eine erste Explosion, das Haus wackelte und es gab einen riesigen Knall. Mein Mitbewohner kam gerade vom Balkon in die Wohnung und wollte fragen, was das gewesen sei. Und dann: BOOM!
Geht es ihm gut?
Ja, ihm ist auch nichts passiert. Wir standen beide beim Zeitpunkt der Detonation an einem Ort, an dem wir einigermassen geschützt waren. Das war unglaubliches Glück.
Ich nehme an, eure Wohnung ist nicht so glimpflich davongekommen.
Nein. Als die Druckwelle uns erreichte, barsten alle Fenster, die Fensterrahmen wurden aus der Mauer gerissen, Stühle flogen durch den Raum, Wäscheständer schleuderten umher, unsere Eingangstüre ist futsch. Der Boden ist ein Meer aus Scherben. Die ganze Stadt ist ein Meer aus Scherben. Autos fahren in der Stadt auf Scherbenbelag, bei jedem Schritt knirscht und knackt etwas, ich habe sogar Scherben zwischen meinen Büchern gefunden!
Anm. d. Red.: Im Video sind Eindrücke der Verwüstung in Myrtas Wohnung und in Beirut generell zu finden.
Was ging Dir durch den Kopf, als die Druckwelle euch traf?
Zuerst dachte ich: «Das muss direkt vor unserer Haustüre passiert sein. Unser Nachbarshaus muss in die Luft geflogen sein.» Dann kam auch sehr schnell der Gedanke eines Angriffs auf. Die politische Lage ist ja sehr instabil im Land.
Was passierte anschliessend?
Wir verharrten erst einmal an Ort und Stelle und versuchten herauszufinden, was die Explosion ausgelöst hat. Schnell ging das Gerücht auf Whatsapp um, dass das Regierungsgebäude bombardiert wurde. Angst vor einer zweiten Detonation kam auf. An offizielle Infos kamen wir nicht, der Strom ist ausgefallen, das Internet funktionierte nicht. Viele haben hier in Beirut ein Whatsapp-Mobilabo, die App hat als einziges noch funktioniert. Nach kurzer Zeit kam dann Entwarnung. Es hiess, eine Feuerwerksfabrik flog in die Luft. Das war eine grosse Erleichterung für uns.
Stehen noch alle Gebäude in Deiner Strasse?
Ja, die stehen alle noch. Wir wohnen wenige Paralellstrassen vom Unglücksort entfernt. Eine Strasse weiter links gibt es aber bereits Gebäude, die bröckeln oder gar eingestürzt sind. Geht man noch ein bisschen weiter Richtung Explosionsstelle, bietet sich einem ein Bild der totalen Verwüstung.
Wie ist die Stimmung heute?
Speziell. Auf den Strassen herrscht ein grosses Tohuwabohu. Einige haben angefangen, die Trümmer zu beseitigen, andere wollen schnellstmöglich ins Spital oder gar aus der Stadt. Es wird gehupt und gedrängelt auf den Strassen, weil jeder gerade das Gefühl hat, sein Ziel sei das Wichtigste. Es gibt aber auch viele Schaulustige, die sich das Ausmass der Zerstörung anschauen wollen. Darunter sind auch einige Journalisten. Militär und Polizei streifen ebenfalls umher und versuchen für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Und Du versuchst den Leuten auf der Strasse zu helfen.
Genau. Wir sind heute mit gutem Schuhwerk losgezogen, von Laden zu Laden, und haben unsere Hilfe angeboten. Allgemein ist gerade eine grosse Welle der Solidarität zu spüren. Jeder versucht, dem anderen irgendwie unter die Arme zu greifen. Wir haben dann eine alte Frau dabei unterstützt, ihren Schmuck aus dem Schmuckladen zu bergen.
Der Libanon schlittert gerade von einer Krise zur nächsten. War die Explosion der Todesstoss?
Es ist tatsächlich tragisch. Die von Korruption verseuchte Regierung, die Wirtschaftskrise, der ins bodenlose fallende Pfund und schliesslich auch noch Corona mit einem Lockdown. Und jetzt, nach all den Tiefschlägen, liegen die wenigen Läden, die das alles überlebt haben, in Schutt und Asche. Ein trauriges Sahnehäubchen auf dem Unglückskuchen.
Und hier jammern Menschen wegen einer Maskenpflicht rum...