Am 17. Februar hat sich der 15-jährige Mikołaj Filiks das Leben genommen. Am Dienstag wurde er bestattet, am Mittwoch wäre er 16 Jahre alt geworden.
— Magdalena Filiks 🇵🇱🇪🇺 (@FiliksMagdalena) March 3, 2023
Der Fall erschüttert Polen, denn der Suizid scheint das Resultat unrechtmässiger Verstrickungen zwischen Politik, Justiz und Medien gewesen zu sein.
Den Stein ins Rollen gebracht hat ein Bericht beim Radio Szczecin – einem lokalen Radio und Newsportal in der Woiwodschaft Westpommern. Darin wurde von einem pädophilen Beamten in der Regionalregierung berichtet. Im ersten Satz heisst es, dass der Beauftragte für Suchtprävention, Krzysztof F., «wegen Pädophilie, Anstiftung zum Drogenkonsum von Kindern und Besitz einer erheblichen Menge berauschender Mittel» 2021 verurteilt worden sei.
Dann folgt der Satz, in dem viele ein unnötiges und letztlich tödliches Weiterspinnen der Tragödie sehen:
In Szczecin gibt es nur drei Parlamentarier. Nach einer kurzen Google-Suche weiss in Polen deshalb jeder und jede: Bei der Politikerin handelt es sich um Magdalena Filiks. Sie ist Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn – Mikołaj Filiks.
Die Tat hatte sich bereits im August 2020 ereignet, Täter Krzysztof F. wurde 2021 verurteilt. Die Öffentlichkeit erfuhr zum Schutz der Opfer nichts davon, bis sich die Geschichte Ende 2022 urplötzlich wie ein Lauffeuer durch die polnische Medienlandschaft verbreite. Aus dem Nichts wurde Mikołaj Filiks als sexuelles Missbrauchsopfer ins Rampenlicht gezerrt.
Wenige Wochen später, am 17. Februar, nahm er sich das Leben.
Für die Oppositionspartei ist klar: Mikołaj Filiks ist das Opfer eines hässlichen politischen Machtkampfes geworden.
Magdalena Filiks ist Abgeordnete der Bürgerplattform (PO), der grössten Oppositionspartei in Polen. In einer Koalition mit der agrarisch-konservativen Polnischen Volkspartei (PSL) regierte die PO das Land von 2007 bis 2015 – bis sie von der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von der Regierungsspitze verdrängt wurde. Diese regiert seither mit der absoluten Mehrheit, wobei sie laut der Organisation Human Rights Watch den Rechtsstaat zunehmend aushöhlt.
Seit ihrer Machtübernahme liegt die PiS deshalb in einem dauernden Konflikt mit der EU. Grund ist eine Justizreform, die anstrebt, das Gerichtswesen der politischen Macht unterzuordnen.
Kontinuierliche Recherchen von Human Rights Watch bestätigen, dass Gerichte und das Justizsystem immer wieder gezielt politisch instrumentalisiert wurden, um insbesondere die Rechte von Frauen, Mädchen und LGBT-Personen zu untergraben. So hat das polnische Verfassungsgericht 2020 beispielsweise fast alle Ausnahmeregeln des strengen Abtreibungsgesetzes aufgehoben.
Während die Partei die staatlichen Medien längst als ihr Sprachrohr nutzt, hat sie sich 2021 auch viele private Medien unter den Nagel gerissen. Der staatliche Ölriese Orlen kaufte dafür 2020 den Lokalmedien-Verlag «Polska Press» auf, womit die Regierung praktisch die Kontrolle über 20 von 24 Lokalzeitungen, 120 regionale Wochenzeitschriften und 500 Online-Portale gewann.
Die Opposition hat genug davon. Im Dezember hat sie zumindest dem öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender TVP Info den Kampf angesagt. Ihrer Ansicht nach ist der Sender zu einem Propagandakanal für die Regierungspartei PiS verkommen, weshalb sie mit einem Gesetzesentwurf dessen Abschaffung fordert. Diesen legte sie dem Parlament am 19. Dezember vor.
Zurück zum Fall Krzysztof F.
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, wie sehr der Autor Tomasz Duklanowski die Details des Falls ausgeschlachtet hat – und wie sehr dies in die Karten der Regierungspartei spielt. So betont er im gesamten Text die Angehörigkeit des Verurteilten zur Oppositionspartei PO und zur LGBT-Bewegung.
Mit seiner Rhetorik scheint er zudem bewusst das falsche Narrativ zu schüren, wonach Homosexuelle auch pädophil seien. In seinem Bericht schreibt er:
Im selben Ton berichtete auch der Staatssender TVP Info über den Fall und bezog sich dabei auf das Material von Radio Szczecin. Aufmerksamen Augen ist aber nicht entgangen, dass die Meldung bei TVP Info zwei Minuten vor Radio Szczecin online gegangen ist. Wie das polnische Newsportal OKO.press schreibt, könne dies auf eine orchestrierte Propagandaaktivität hindeuten. In erster Linie habe man darauf abgezielt, das Umfeld der PO zu diskreditieren. Abwegig ist das nicht: Im Herbst wird das Parlament gewählt und Expertinnen und Experten halten einen Machtwechsel für möglich.
Tomasz Duklanowski will davon nichts wissen. Er verteidigt die Preisgabe der Informationen und behauptet, die PO habe zu verbergen versucht, dass ein Pädophiler zu ihrer Partei gehört habe. Gegenüber dem TV-Sender Republik sagte er, dass der Fokus seiner Meinung nach jetzt bloss auf ihn gerichtet werde, um ...
Der polnische Minister für Bildung und Wissenschaft Przemysław Czarnek bläst ins gleiche Horn. Im Interview mit dem Staatssender TVP Info betont er:
Die polnische Richterin Olimpia Małuszek aus der Grossstadt Gorzów widerspricht solchen Vorwürfen in der Tageszeitung Wyborcza. Strafprozesse, bei denen es um Vergewaltigung, Pädophilie oder Belästigung gehe, fänden zum Schutz der Opfer hinter geschlossenen Türen statt. Daten, die eine Identifizierung von Opfern zuliessen, dürften gar nicht übermittelt werden.
Sie glaubt deshalb, dass die Staatsanwaltschaft mit der Regierungspartei und den Medien unter einer Decke steckt:
Schlussendlich sei der Fall, der schon 2021 abgeschlossen worden sei, medial wieder aufgewärmt worden, um der Oppositionspartei zu schaden.
Der Oppositionsführer Donald Tusk findet auf Twitter dafür klare Worte:
Der polnische Presserat hat den Fall bereits untersucht und eine Verletzung ethischer Prinzipien festgestellt. Bisher noch ohne Konsequenzen. Weder Radio Szczecin noch Duklanowski haben die Vorwürfe kommentiert.
Währenddessen hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren im Fall des Selbstmordes von Magdalena Filiks' Sohn eröffnet. Wie diverse Medien berichteten, sei dies unter Artikel 151 des Strafgesetzbuches geschehen. Dieser bestraft diejenigen, die «Anstiftung zum Selbstmord» oder «Hilfe zum Selbstmord» begehen. Dies dürfte aber eher eine Routinemassnahme bei Suizidfällen sein.
Krzysztof F. sitzt wegen Kindesmissbrauchs, Drogenbesitzes und Anstiftung zu Drogenkonsum bei Kindern eine Haftstrafe von vier Jahren und 10 Monaten ab.
PS: In der Schweiz haben wir auch eine solche Tendenz. Auf jeden Fall kaufte hier auch ein Multimillionär einige Zeitungen und hat gute Freunde bei der Weltwoche und Nebelspalter.
Für die Spaltung haben wir ja unsere Populisten vom Rechtsaussenflügel. Traurig.