Ruhige Tage sind das nicht für Claude Wild, seit 2019 Schweizer Botschafter in der Ukraine. Gerade hat er allen 257 Schweizerinnen und Schweizern im Land einen Brief geschickt und sie darauf hingewiesen, dass es vielleicht bald nicht mehr möglich sein werde, die Ukraine per Flugzeug zu verlassen. Doch trotz der angespannten Lage: Der 57-Jährige wirkt entspannt. Auf dem Tisch stehen Lindor-Kugeln und Kaffee, auf der Themenliste für das Gespräch Krieg und Korruption.
Deutschland und die USA fordern alle ihre Staatsbürger auf, die Ukraine sofort zu verlassen. Sie sind immer noch hier in Kiew. Haben Sie keine Angst?
Claude Wild: Nein, meine Mitarbeiter und ich haben keine Angst. Wir sind uns des Ernstes der Lage bewusst. Begleitpersonen und Kinder des versetzbaren Botschaftspersonals haben das Land verlassen. Die Schweizer Botschaft hier in Kiew funktioniert aber normal und erfüllt weiterhin ihre diplomatischen und konsularischen Aufgaben. In angespannten Zeiten ist es besonders wichtig, dass sich Schweizer Staatsangehörige an die Botschaft wenden können.
Was müsste denn passieren, dass Sie abreisen?
Solange es die Sicherheitslage erlaubt, bleiben wir hier. Über Szenarien zu spekulieren, macht wenig Sinn.
Was raten Sie den 257 Schweizer Staatsbürgern im Land?
Am 14. Februar haben wir allen eine Lagebeurteilung mit den neusten Reisehinweisen und Informationen im Falle einer Ausreise per Flugzeug geschickt. Eine Ausreiseempfehlung haben wir nicht erlassen. Ob sie bleiben oder gehen wollen, liegt in ihrer eigenen Verantwortung. Wir haben aber darauf hingewiesen, dass die Fluggesellschaften ihre Flüge einstellen könnten.
Welchen Schutz könnte die Schweizer Botschaft Ihnen im Falle eines russischen Angriffs bieten?
Wir haben verschiedene Schutzmassnahmen vorbereitet, die je nach Entwicklung der Lage umgesetzt werden können. Wir mussten uns ja schon 2014 beim Angriff auf der Krim und beim Beginn des Konfliktes in der Ostukraine auf verschiedene Szenarien vorbereiten. Alle Schweizer, die das Land damals verlassen wollten, haben das dann aber mit kommerziellen Flügen, per Bahn oder in ihren Privatautos tun können.
Russlands Aussenminister hat Putin geraten, weiter mit dem Westen zu verhandeln. Überschätzen wir die Gefahr eines russischen Angriffs?
Dazu gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Aber halten wir uns an die Fakten: Die Ukraine war bereits 2014 mit der russischen Annexion der Krim konfrontiert. In der Ostukraine ist ein bewaffneter Konflikt mit pro-russischen Separatisten im Gange. Ein neuer Angriff kann nur schon deshalb nicht ausgeschlossen werden. Ganz unabhängig davon: Nur schon die aktuelle militärische Drohkulisse hat negative Konsequenzen für die Ukraine: Sie hemmt das Investitionsklima und schwächt die Wirtschaft. Das ist ein klassischer Fall von Destabilisierung.
Soll die Ukraine einfach wegschauen und sich nicht verunsichern lassen?
Wegschauen wäre Vogel-Strauss-Politik. Das ist nicht angebracht. Wenn ein Land wie die Ukraine kollabieren würde, dann hätte das schwerwiegende Konsequenzen – auch für uns.
Mehr als 100'000 Privatpersonen üben derzeit den Widerstand für den Fall einer russischen Invasion. Spüren Sie eine Veränderung in der Stimmung der Bevölkerung?
Der Wille, die Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen, ist riesig. Dieser Wille war schon bei den Kosaken da, die hier in der frühen Neuzeit für ihre Freiheit kämpften. Da gibt es gewisse Parallelen zur Geschichte der Eidgenossenschaft.
Russland ist für die Ukrainer das, was die Habsburger für die Eidgenossen waren?
Ich kann nur sagen: Schon 2014 bei den pro-demokratischen Aufständen auf dem Maidan sowie im Konflikt in der Ostukraine hat man gesehen, dass Freiwillige bereit sind, ihr Leben zu opfern für das Schicksal der Ukraine. Man darf den Willen der Ukrainer, alles für ihr Land zu geben, nicht unterschätzen.
Diverse Regierungschefs sind nach Moskau gereist. Sollte Bundespräsident Ignazio Cassis das auch tun?
Bundespräsident Cassis hat den russischen Aussenminister Sergej Lawrow und dessen amerikanischen Kollegen Antony Blinken kürzlich in Genf getroffen. Und Anfang Januar hat er sich per Telefon mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski ausgetauscht. Klar ist: Die Schweiz unterhält einen Dialog mit allen Seiten und ist bereit, aktiv zur Entspannung der Lage beizutragen.
Wie viel Prozent der Schweizer Bemühungen bekommt die Öffentlichkeit überhaupt mit?
90 Prozent bleiben im Dunklen – und das ist auch gut so. Diskretion hat in der Diplomatie einen hohen Wert. Wir haben beispielsweise bei den Verhandlungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Russland und der Ukraine aktiv teilgenommen und unsere Ideen platziert. Wenn diese Ideen da aufgegriffen und von mächtigeren Playern übernommen werden, dann ist das viel wert, auch wenn dann keiner mehr sieht, dass das unsere Ideen waren.
Es gibt Stimmen, die von der Schweiz einen klareren Stellungsbezug gegen Russland fordern.
Wir sind nicht anti-russisch oder pro-ukrainisch: Wir sind schlicht pro-Schweizer-Werte und pro-Internationales-Recht. Wenn ein Staat sich gegen die Verletzung des Völkerrechts einsetzt, dann ist dieser Staat naturgemäss näher an unseren Positionen. Genauso ist es bei der Position der Schweiz und der Ukraine bezüglich der Annexion der Krim durch Russland.
Trotzdem: Die Schweiz hat sich 2014 nach dem Einmarsch Russlands nicht an den Sanktionen gegen Moskau beteiligt.
Die einzigen Sanktionen, die die Schweiz automatisch übernimmt, sind jene, die von der UNO gesprochen werden. Weil die UNO-Sanktionen nach dem Einfall auf der Krim von der Veto-Macht Russland blockiert worden sind, wurden sie von der UNO nie formell verhängt. Der Bundesrat hat 2014 beschlossen, sich den Sanktionen der EU im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine nicht anzuschliessen, aber eine Umgehung dieser Sanktionen über schweizerisches Gebiet zu verhindern.
Die Meinung, dass die Ukraine und Russland zusammengehören, gibt es auch bei uns. Warum ist sie falsch?
Das ist ein Klischee und liegt vielleicht auch daran, dass viele Schweizer zu wenig Kenntnisse über die ukrainische Geschichte haben und noch nie in der Ukraine waren. Obwohl man von Zürich aus schneller in Kiew ist, als etwa in Lissabon. Man hat zuweilen den falschen Eindruck, alles Ex-Sowjetische sei heute noch gleich. Die Ukraine befindet sich aber in einem Transformationsprozess, weg aus der russischen Einflusssphäre, hin zu europäischen Werten und Standards. Und auch wenn es noch Probleme gibt wie Korruption oder ein ineffizientes Justizsystem: Der Wille, die Lebensumstände zu verbessern, ist gewaltig.
Mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von weniger als 3500 Franken ist die Ukraine noch immer das ärmste Land Europas.
Der finanzielle Wohlstand der Ukrainer ist nicht vollumfänglich erfasst. Was sicher stimmt: Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind gewaltig. Auch übermächtige Oligarchen gibt es in der Ukraine noch.
Wo ist die Ukraine stark?
Das Land ist der weltgrösste Produzent von Sonnenblumenöl und wichtiger Weizenexporteur. Der grosse neue Sektor in der Ukraine ist aber die IT. Auch viele Schweizer Firmen haben IT-Abteilungen in der Ukraine.
Wie kann die Schweiz davon profitieren?
Die Lohnkosten hier sind tiefer als an anderen Orten in Europa und die Ukraine verfügt über gut ausgebildete Arbeitnehmende. Bereits mehr als 100 Schweizer Firmen haben das Potenzial erkannt und sind hier im Land aktiv. In der Pandemie hat Europa zudem gemerkt, dass lange Lieferketten nicht optimal sind. Das macht die Ukraine als Produktionsstandort noch interessanter.
Und wie soll die Schweiz dem Land helfen?
Die Schweiz unterstützt den laufenden Reformprozess und organisiert im Juli in Lugano die Ukraine-Reformkonferenz. Wir investieren jährlich rund 27 Millionen Franken in die Ukraine und unterstützen Projekte etwa in der Friedensförderung, der Wirtschaftshilfe oder des Gesundheitssystems. Wir wollen ein starker Partner sein und innerhalb dieser Partnerschaft den nötigen freundlichen Druck ausüben, den es braucht, damit die Reformen dann wirklich auch umgesetzt werden.
Sie waren von 1997 bis 2000 in Moskau stationiert. Kennen Sie Putin?
Nicht persönlich, nein. Aber ich habe mich beruflich in verschiedenen Positionen eng mit der russischen Innen- und Aussenpolitik befasst.
Was haben Sie in Ihrer Zeit in Moskau gelernt, das Ihnen jetzt in der Ukraine zugutekommt?
Sowohl die Russen als auch die Ukrainer sind sehr gute Schachspieler. Ich selber spiele gerne Schach. Da kann man viel über das Denken der Menschen hier lernen: sehr strategisch. Man weiss: Eine Bedrohung wirkt oft stärker als der eigentliche Zug. Und: Hier ist nichts so sicher wie bei uns, wo jede und jeder für alle Eventualitäten gerüstet ist. Risiken eingehen, etwas wagen, das ist in den Ländern im Osten Teil des täglichen Lebens – und Teil der politischen Kultur.