Fernsehduell, Homestory und Anschuldigungen - nach der Annullierung der Bürgermeisterwahl kämpfen Opposition und Erdogans AKP erneut um das Rathaus in Istanbul. Ekrem Imamoglu von der CHP gilt als Hoffnungsträger.
Als der weisse Bus um die Ecke biegt, hält die Menschen im Istanbuler Stadtteil Maltepe nichts mehr. Sie stürmen nach vorne und scharen sich um das Fahrzeug, wollen ihren Bürgermeisterkandidaten aus der Nähe sehen. Ekrem Imamoglu steigt auf das Dach des Busses. Seine Anhänger schwenken türkische Fahnen.
Auf einigen steht «alles wird sehr gut» - der Slogan von Imamoglu. Der Oppositionspolitiker wurde schon einmal zum Bürgermeister von Istanbul gewählt und brach damit die mehr als 25 Jahre lange Herrschaft von islamisch-konservativen Parteien über die Stadt.
Doch am Sonntag muss sich der 49-jährige Imamoglu erneut gegen seinen Herausforderer, den ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim, behaupten.
Imamoglu hatte die reguläre Kommunalwahl am 31. März knapp gewonnen. Dann aber hatte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP Einspruch wegen angeblicher Regelwidrigkeiten eingelegt. Anfang Mai annullierte die Hohe Wahlkommission das Ergebnis schliesslich, setzte Imamoglu ab und ordnete eine Wahlwiederholung am 23. Juni an - auf Druck von Präsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan, wie die Opposition kritisiert.
Die Wahl wird auch international aufmerksam beobachtet. Erdogan-Verdrossene und die Opposition feiern Imamoglu als Hoffnungsträger nicht nur für Istanbul, sondern für das ganze Land. Er ist zum Symbol geworden für die Hoffnung, dass in der Türkei auf demokratischem Weg doch ein Wandel möglich ist. Einige sehen in ihm sogar schon den nächsten Präsidenten.
Aus der AKP heisst es, selbst parteiinterne Umfragen zeigten Imamoglu vorne. Dementsprechend nervös erscheint die Regierungspartei. Ihr Kandidat Binali Yildirim stellte sich der Opposition am Sonntag sogar zum ersten Mal seit langem in einem TV-Duell.
Beide Seiten geben kurz vor der Wahl alles. Imamoglu, der für die grösste Oppositionspartei CHP antritt, trifft Wirtschaftsvertreter, hält Reden und zeigt sich auch in konservativen Stadtteilen. In Maltepe haben die fliegenden Händler ihre Chance erkannt und quetschen sich mit Fanartikeln durch die Menschen. Sie preisen Kappen, T-Shirts und Fahnen mit Imamoglus Gesicht an.
«Ich werde sehr viel arbeiten, ich werde nicht müde werden, denn Gott sei Dank haben wir Energie, unsere Jugend und unser Herz», ruft Imamoglu. Er versucht, vor allem Jugendliche anzusprechen, und die danken es ihm.
Imamoglu habe in seiner 18-tägigen Amtszeit mehr für Studenten getan, als die AKP in fast 20 Jahren, sagt eine Pädagogikstudentin, die ihren Namen nicht nennen will. Er habe etwa durchgesetzt, dass die Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel für Schüler und Studenten um mehr als die Hälfte reduziert werde.
Ihr Bruder, 21, Architekturstudent, sagt, «ich unterstütze Imamoglu, weil ich genug habe von dem Druck, der auf uns ausgeübt wird». Die wirtschaftliche Situation im Land sei schlecht, Jugendliche hätten kein Geld, aber an der Uni könnten sie noch nicht mal gegen erhöhte Essenspreise demonstrieren. Die AKP regiere an den jungen Menschen vorbei und brüste sich mit vergangenen Erfolgen. Er schüttelt den Kopf: «Es ist 2019 und wir reden darüber, dass es früher keine Elektrizität gab. Wir brauchen Visionen.»
Die CHP-Anhänger glauben fest an Imamoglus Sieg und daran, dass die Wahl fair abläuft. Nach Ansicht der Bürgerinitiative Oy ve Ötesi, die die Abstimmung beobachtet, ist Wahlbetrug tatsächlich nicht so einfach.
«Der türkische Wahlprozess ist besser als sein Ruf - solange es keinen Druck auf die Institutionen gibt», sagt Vereinschef Mustafa Köksalan. «Meiner Meinung nach ist es sehr schwierig, in Istanbul zu betrügen, weil so viele Menschen auf ihre Stimmen aufpassen.»
Die AKP wiederum versucht, so viele Wähler wie möglich zu mobilisieren, und führt dabei einen völlig anderen Wahlkampf als noch vor dem 31. März. Einer ist überhaupt nicht präsent - und das ist Erdogan. Noch im März hatte er die Kommunalwahl hochstilisiert zu einem Kampf um Fortbestand oder Niedergang des Landes und täglich mehrere Wahlkampfreden gehalten. Analysten vermuten, dass Erdogan sich aus der Schusslinie nehmen will, für den Fall, dass die AKP doch verlieren sollte.
Auch auf den Plakaten ist nun nur Yildirim zu sehen; die Slogans thematisieren Sorgen der Bürger wie die Arbeitslosigkeit. Yildirim, der hinter Erdogan stets blass geblieben ist, versucht, an Farbe zu gewinnen. Er lädt eine Journalistin des Senders «Habertürk» in sein Haus im Stadtteil Tuzla ein und lässt sich mit Frau und Hund fotografieren. Er stellt sich als Politiker dar, dem Istanbul sehr am Herzen liegt - und der auch mal bügelt und Knöpfe annäht.
Im TV-Duell gegen Imamoglu wirkt er manchmal unbeholfen, aber durchaus sympathisch. Dass sich die AKP überhaupt am vergangenen Sonntag seit ihrem Machtantritt im Jahr 2002 in einem Fernsehduell der Opposition stellte, war ein historischer Moment.
Die Istanbuler fieberten ihm entgegen wie einem Spiel der Fussballnationalmannschaft. Die beiden Gegner diskutieren über Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut und das Verkehrsproblem. Es ging nicht nur harmonisch zu. Yildirim bezeichnet Imamoglu als «Lügner». Imamoglu wiederum beschuldigt die AKP, öffentliche Gelder zu verschwenden. (sda/dpa)