Es ist eine der grössten demokratischen Wahlen der Welt: Über 370 Millionen Menschen sind vom 6. bis 9. Juni aufgerufen, ihre Stimme für die Wahl des Europäischen Parlaments abzugeben. Total sind 720 Sitze zu vergeben; die Mindestzahl beträgt pro Mitgliedstaat 6 und die Höchstzahl 96. Indirekt betroffen ist auch die Schweiz, wo über zwei Millionen Menschen einen EU-Pass besitzen.
In Zeiten von Krieg, Klimawandel und wirtschaftlichen Herausforderungen steht viel auf dem Spiel. Fragen und Antworten über Europas grosse Richtungswahl:
Der Krieg in der Ukraine und die Sicherheit im Allgemeinen. Laut der aktuellen Eurobarometer-Umfrage mit über 25'000 Teilnehmenden landet der Ukraine-Krieg mit 35 Prozent auf dem Spitzenplatz bei den Themen, die die Wählenden umtreiben. Während 2019 noch die Migration auf Platz eins rangierte, ist diese aktuell nur noch am zweitwichtigsten. Der Klimawandel folgt an dritter Stelle. Danach kommen Themen wie steigende Lebenskosten und der Schutz von Bürgerrechten.
Wie schon bei der Wahl vor fünf Jahren werden auch dieses Jahr rechtskonservative und ultra-rechte Parteien zulegen. Das liegt vor allem daran, dass diese Parteien in den bevölkerungsreichsten Ländern Deutschland, Frankreich und Italien gut abschneiden. Verlieren dürften die Grünen, die Sozialdemokraten und die Liberalen.
Besonders bei den Jungen haben die Rechten Erfolg: In Frankreich wollen rund 36 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihre Stimme Marine Le Pens Rassemblement National (RN) geben. In den Niederlanden kommt der Islamkritiker Geert Wilders bei derselben Altersgruppe auf über 30 Prozent. In Deutschland punktet die AfD bei den Jungen bei rund 22 Prozent.
Zusammen könnten Europas Rechtspopulisten auf über 160 der 720 zu vergebenden Sitze kommen und damit zur zweitstärksten Kraft im EU-Parlament werden. Allerdings dürfte der Rechtsrutsch nicht zu einem eigentlichen Dammbruch anschwellen. Der Grund ist, dass Europas Rechte untereinander uneins und in verschiedene Gruppen gespalten sind.
Der von Marine Le Pen angeführten Gruppe «Identität und Demokratie» (I&D) stehen die von Giorgia Meloni dominierten «Europäischen Konservativen und Reformer» (EKR) gegenüber. Die deutsche AfD ist nach dem kürzlich erfolgten Rauswurf aus der I&D-Fraktion heimatlos. Ebenso Viktor Orbáns 12 Abgeordnete der ungarischen Fidesz-Partei.
Schaffen es die europäischen Rechten doch noch, die Reihen zu schliessen, droht im schlimmsten Fall eine Lähmung des EU-Parlaments. Die Sozialdemokraten, Grüne und Liberalen haben bereits angekündigt, nicht mit den Parteien am rechten Rand zusammenarbeiten zu wollen.
Entscheidend wird sein, wie sich die christlich-demokratische Volkspartei (EVP) verhält. Sie dürfte mit rund 170 Sitzen noch immer die stärkste Kraft bleiben. Während die EVP bereit ist, mit Meloni zusammenarbeiten, hält sie gegenüber Le Pen und der AfD an der Brandmauer fest.
So oder so ist klar: Mit dem Erstarken der Rechtspopulisten wird die Konsensfindung in Brüssel schwieriger.
Ursula von der Leyen ist Präsidentin der EU-Kommission und sie will es auch bleiben. Als Spitzenkandidatin der Europäischen Christdemokraten ist die 65-jährige Deutsche die Favoritin für eine zweite Amtszeit als Kommissionschefin.
Allerdings muss von der Leyen vom EU-Parlament bestätigt werden und dafür eine Koalition zimmern. Schon letztes Mal wurde sie bloss mit einer hauchdünnen Mehrheit gewählt. Diesmal wird es noch schwieriger.
Geht von der Leyen eine Allianz mit Meloni ein, drohen ihr die Stimmen der Mitte und der Linken verloren zu gehen. Ohnehin sind Grüne und Linke enttäuscht von von der Leyen, weil sie nach politischem Gegenwind einige Kernpunkte ihres Klimaschutzprogramms («Green Deal») wieder zurückgenommen hat.
Die EU-Staats- und Regierungschefs können die Spitzenkandidaten des EU-Parlaments aber auch ignorieren und selbst eine Kommissionspräsidentin aus dem Hut zaubern. Auf diese Weise kam von der Leyen 2019 überraschend an die Macht. Dass sich das EU-Parlament noch ein zweites Mal so auf der Nase herumtanzen lässt, ist jedoch unwahrscheinlich.
Fazit: Will von der Leyen im Amt bleiben, muss sie viele schwierige Zugeständnisse nach allen Seiten machen. Die Suche nach einer Mehrheit wird zum Drahtseilakt mit akuter Absturzgefahr.
Die Wahlen finden vor allem im nationalen Kontext statt. Einen EU-weiten einheitlichen Grund für den Rechtsrutsch gibt es daher nicht. Die ungesteuerte Migration und deren Folgeprobleme sind aber sicher etwas, das die Menschen in allen 27 EU-Staaten umtreibt.
Als weiteren Grund nennen Experten wirtschaftliche Sorgen und Abstiegsängste. Ein wachsender Teil der Bevölkerung fühlt sich abgehängt und hat das Gefühl, vom Fortschritt ausgeschlossen zu sein. In den Niederlanden zum Beispiel waren die sinkende Kaufkraft und steigende Lebenskosten ein wesentlicher Treiber für den Wahlsieg von Geert Wilders.
Der Erfolg von Wilders zeigt noch einen dritten Grund auf, weshalb immer mehr Menschen Rechte wählen: die Frustration über die sogenannten etablierten Parteien. Gerade bei den Jungen: Wählten Junge früher aus Protest gegen das Establishment links, geben sie heute ihre Stimme vermehrt den rechten Parteien, die gegen den vermeintlich links-dominierten «Mainstream» antreten. Im Vergleich zu ihren Eltern haben sie hierbei weniger Berührungsängste.
Seit dem Negativ-Beispiel Brexit hat zwar kaum eine radikal-rechte Partei in Europa den EU-Austritt im Programm. Auch mit dem Krieg in der Ukraine und dem aufziehenden Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China sind viele Rechtsparteien von ihrem fundamentalen Anti-EU-Kurs abgerückt. Dass Europa geopolitisch zusammenhalten muss, ist heute mehr oder weniger Konsens.
Aber: Die meisten Rechtsparteien stehen einer weiteren politischen und wirtschaftlichen Integration skeptisch gegenüber. Sie wollen weniger EU-Zentralismus und stattdessen einen losen Zusammenschluss eines «Europa der Vaterländer». Damit könnte dem Gemeinschaftsprojekt die langsame Zersetzung drohen. Denn Europa ist, wie es der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors einmal gesagt hat, wie ein Fahrrad: Hält man es an, fällt es um.
Ausserdem sind sich Europas Rechtspopulisten in einer Sache oft ähnlich: Sie haben Mühe mit den Prinzipien der liberalen Demokratie. Das zeigt sich in Ländern wie Polen und Ungarn, in denen die rechtspopulistischen Parteien die Medienfreiheit beschnitten, sobald sie an der Macht waren, wie Thu Nguyen vom Think Tank «Jacques Delors Centre» in Berlin gegenüber CH Media erklärt.
Immer wie mehr. Seit der ersten Wahl zum Europäischen Parlament 1979 sank die Wahlbeteiligung fortlaufend und erreichte 2014 mit 42 Prozent ihren Tiefpunkt. Seither stiegt die Zahl der Wählenden wieder und erreichte 2019 über 50 Prozent. Laut verschiedener Umfragen könnten an der diesjährigen Parlamentswahl 60 Prozent der Berechtigten teilnehmen.
Lange Zeit herrschte in der Politikwissenschaft die Meinung vor, dass es sich bei den EU-Wahlen weitgehend um Sekundärwahlen handelt. Das heisst, die Bürgerinnen und Bürger blicken nicht auf Europa, sondern auf ihre nationale Regierung und stimmen dann gegen oder für sie. Laut Isabell Hoffmann, Gründerin des Umfrage-Instituts «Eupinions» ändert sich das aber.
EU-Politik werde zunehmend unabhängig von der nationalen Politik betrachtet. Das liegt vor allem an der Zunahme von gesamteuropäischen Krisen seit der Finanz- und Schuldenkrise, der Flüchtlingskrise von 2015, dem Brexit, der Pandemie und nun dem Krieg in der Ukraine, so Hoffmann gegenüber CH Media.
Die Arbeit des EU-Parlaments hat mitunter einen direkten Einfluss auf die Schweiz, gerade bei allem, was den Binnenmarkt betrifft. So wurde zum Beispiel das europäische Datenschutzgesetz, das stark vom EU-Parlament mitgeprägt wurde, von der Schweiz mehr oder weniger direkt übernommen. Ein alltagsnahes Beispiel ist die Vereinheitlichung des Handy-Ladekabels, welche das EU-Parlament mitbeschlossen hat und das faktisch für die Schweiz mit gilt.
In anderen Bereichen, welche die Schweiz betreffen, ist das EU-Parlament aber bloss Zuschauerin. Am wichtigsten natürlich bei der Neugestaltung der bilateralen Beziehungen, die aktuell von der EU-Kommission im Auftrag der EU-Mitgliedsstaaten mit der Schweiz verhandelt wird. Auch bei der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hat das EU-Parlament nichts zu sagen. (aargauerzeitung.ch)