Geht die Europäische Kommission heimliche Bündnisse mit Nichtregierungsorganisationen (NROs) ein, um ihre Ziele durchzusetzen? Diese Frage steht im Raum, nachdem die Zeitung Welt am Sonntag über «Geheimverträge» berichtet hat, in denen die Behörde angeblich festgelegt hat, wie Aktivisten Kohlekraft und Freihandelsabkommen lahmlegen sollen. Christoph de Vries (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, spricht von einem «ungeheuerlichen Vorgang» und fordert die Prüfung von «dienstrechtlichen Konsequenzen» für die beteiligten Beamten.
Gibt es in Brüssel also einen deep state, eine Allianz von Bürokraten und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die an demokratischen Mehrheiten vorbei die Politik bestimmt?
Tatsächlich hat die Kommission schon vor einiger Zeit ein Programm für den Schutz von Umwelt und Klima aufgelegt. Es trägt den Namen Life und wurde im Jahr 2020 mit Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen. Mit diesem Programm können keine politischen Aktivitäten finanziert werden, es sieht aber «Betriebskostenzuschüsse für Umwelt-NROs» vor.
Das Projekt hat letztlich einen demokratietheoretischen Hintergrund: In Brüssel ist die Lobbymacht der Wirtschaftsverbände traditionell gross. Der Verein Lobbycontrol, der sich für mehr Transparenz im politischen Betrieb einsetzt, geht davon aus, dass es rund 25'000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von insgesamt rund 1,5 Milliarden Euro gibt und davon etwa 70 Prozent für Unternehmen und Wirtschaftsverbände arbeiten. Für die grossen Konzerne ist es einfacher als für zivilgesellschaftliche Gruppen, sich über Ländergrenzen hinweg zu organisieren.
Deshalb gab es in der Vergangenheit immer wieder Kritik an einer mangelnden Berücksichtigung von Interessen von Verbrauchern oder Umweltbelangen in der europäischen Gesetzgebung. Die Kommission hat darauf mit einer gezielten Förderung von Verbraucherschützern oder Umweltorganisationen reagiert. Dadurch soll eine Art Ungleichgewicht im vorpolitischen Raum korrigiert werden: Indem sie die Zivilgesellschaft unterstützt, sorgt die EU für diskursive Waffengleichheit. Soweit die Theorie, die in der Praxis immer wieder zu Kritik geführt hat, etwa weil der Europäische Rechnungshof mehr Ausgabentransparenz anmahnte.
Das alles ist allerdings kein Geheimnis. Man kann die Förderprinzipien und ihre Begründung in zahlreichen öffentlich zugänglichen Dokumenten nachlesen, sie waren Gegenstand von Debatten im Parlament. Im konkreten Fall ist auch bekannt, wer genau Geld erhält und zu welchem Zweck. Auf der Webseite der Kommission gibt es eine Liste, auf der die geförderten NROs und ihre Projekte aufgeführt werden.
Im Jahr 2024 waren es demnach 34 Organisationen, darunter beispielsweise die Föderation der Natur- und Nationalparks Europas, der WWF oder die Klimaaktivisten von ClientEarth, einer Organisation von Juristen, die den Klimaschutz vor allem auf dem Klageweg voranbringen wollen. ClientEarth will der Auflistung zufolge mit «strategischen Interventionen» wie der Anrufung von Gerichten eine «systemische Veränderung» in Deutschland, Europa und darüber hinaus erreichen. Dafür erhielt die Organisation im vergangenen Jahr 300'000 Euro. Dass sie damit beispielsweise gegen die Betriebsgenehmigung von deutschen Kohlekraftwerken vorgehen würde, ist also nicht unbedingt eine Überraschung.
In der Debatte spielt aber noch ein zweiter Punkt eine Rolle. Damit die NROs die Zuschüsse für Büros und Mitarbeiter in Brüssel bekommen, müssen sie eine Finanzhilfevereinbarung mit der Kommission abschliessen. Sie enthält detaillierte Arbeitsprogramme, in denen die Organisationen ihre Pläne beschreiben. Diese Vereinbarungen sind nicht öffentlich zugänglich.
Die Berichterstattung in der Welt am Sonntag legt nahe, dass die Beamten der Kommission die Arbeitsprogramme mit den geförderten Organisationen abgestimmt haben. So heisst es, dass die Brüsseler Behörde «genau vorgegeben» habe, was diese zu leisten hätten. In einem Fall seien als Arbeitsnachweis «50 bis 80 Tweets und Treffen mit vier bis sechs EU-Abgeordneten vor Abstimmungen» erwartet worden. Die Fälle stammen dem Blatt zufolge aus dem Jahr 2022. Vor allem ein solches abgestimmtes Vorgehen ist aus der Sicht von Kritikern wie Christoph de Vries problematisch.
Die Kommission weist den Vorwurf allerdings zurück. Für die Ausgestaltung der Arbeitsprogramme seien «alleine die NROs verantwortlich», sagte ein Sprecher der Behörde ZEIT ONLINE. Die Organisation ClientEarth teilt mit, die in den Förderanträgen aufgeführten Aktivitäten seien von den Mittelempfängern selbst «erarbeitet und ausgeführt» und diesen nicht von der Kommission als «Verpflichtung» auferlegt worden.
Der Autor des Berichts in der Welt am Sonntag – der Journalist Axel Bojanowski – verweist auf der Plattform X darauf, dass die Vereinbarungen sowohl von den Beamten der Kommission als auch von Vertretern der NROs unterschrieben worden seien. Allerdings ist das noch kein Beleg für einen konkreten Arbeitsauftrag der Kommission. Die Beamten könnten schlicht die von den Organisationen eingereichten Programme genehmigt haben.
Das Onlineportal Politico (das wie die Welt zum Springerverlag gehört) jedenfalls hat im Februar dieses Jahres 28 Verträge mit verschiedenen NROs untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass es darin keine «Instruktionen» der Kommission gegeben habe, bestimmte Lobbyaktivitäten zu übernehmen. Die Behörde habe sogar explizit festgehalten, dass die Sichtweisen der geförderten Organisationen nicht unbedingt mit denen der EU übereinstimmen müssten.
Einige in der Welt am Sonntag beschriebene Arbeitsprogramme wären heute ohnehin nicht mehr genehmigungsfähig. Die Kommission hat ihre Vergabepraxis bereits im Frühjahr 2024 verändert. Demnach dürfen NROs nicht mehr für Aktivitäten gefördert werden, die Institutionen der EU betreffen. Darunter fallen zum Beispiel auch Zusammenkünfte mit europäischen Beamten. Begründet wird dies mit einem «Reputationsrisiko» für die EU. Der Schritt wurde von Lobbycontrol als Einschränkung der Mitwirkungsrechte von NROs kritisiert. Hintergrund ist, dass konservative Europaparlamentarier wie die CSU-Abgeordnete Monika Hohlmeier (die im Aufsichtsrat des Agrarkonzerns BayWa sitzt) auf eine Verschärfung der Regeln gedrängt hatten.
Es gibt also – so lässt sich die Sachlage vielleicht zusammenfassen – kaum Indizien für eine geheime Allianz aus Beamten und Aktivisten in Brüssel. Und schon gar nicht im Geheimen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.