Kann man sich an das Massensterben im Mittelmeer gewöhnen?
Als das Schiff mit 500 Flüchtlingen an Bord kenterte, als immer mehr Leichen aus dem Mittelmeer gezogen wurden, war Europa schockiert. Der Chef der EU-Kommission flog nach Lampedusa, hielt eine Schweigeminute vor den aufgereihten Särgen ab und versprach, so etwas werde sich nicht wiederholen. «Wir akzeptieren nicht, dass Tausende an Europas Grenzen sterben», sagte José Manuel Barroso. Das war im Jahr 2013, nach der Katastrophe von Lampedusa.
Jetzt hat sie sich wiederholt.
In dieser Woche klingen die Reaktionen auf eine Katastrophe, bei der bis zu 400 tote Flüchtlinge befürchtet werden, so: Derzeit habe man «weder das Geld noch die politische Rückendeckung, um ein europäisches Grenzschutzsystem auf den Weg zu bringen, das Such- und Rettungsoperationen durchführen könnte», sagt eine Sprecherin der EU-Kommission. Man könne höchstens prüfen, ob zusätzliche Ressourcen für die EU-Grenzschutzagentur Frontex «machbar oder wünschenswert» seien.
Europa hat sich, den Eindruck bekommt man in diesen Tagen, daran gewöhnt, dass im Mittelmeer Woche für Woche Menschen sterben, die auf den Kontinent wollen. Das Berliner Innenministerium reagierte auf die Frage nach dem neuen Unglück mit diesem Satz: «Es ist ein Thema, das komplex ist.»
Ist das Resignation, Gleichgültigkeit oder Realismus? Und was kann Europa überhaupt dagegen tun, dass regelmässig Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken?
Die Empörung hat sich verlagert: Nun sind es die Vereinten Nationen, die Europa zu mehr Rettungsmassnahmen drängen. Auch NGOs und Oppositionsparteien, in Deutschland Linke und Grüne, fordern, dass die italienische Rettungsaktion «Mare Nostrum» wieder aufgenommen wird.
Die Debatte kommt und geht, in nächster Zeit dürfte sie allerdings nicht verstummen. Denn der Frühling ist da, die See ruhiger - umso mehr Schlepperboote machen sich von Libyen auf. Im letzten Jahr haben mehr als 200'000 Menschen die Überfahrt gewagt. Das ist nur die offizielle Zahl, die tatsächliche liegt wohl deutlich höher. Und jeder weiss: In diesem Jahr werden es noch mehr.
Allein in dieser Woche hat Italiens Küstenwache 10'000 Flüchtlinge an Land gebracht. Nun bricht der Streit um die Verteilung der Menschen los, die Notunterkünfte im Süden und auf Sizilien sind überfüllt.
Zur Wahrheit gehört, dass sich unter anderem die deutsche Regierung dafür eingesetzt hat, dass die Italiener ihre grosse Rettungsmission «Mare Nostrum» aufgaben. Die Operation war eine Reaktion auf das Lampedusa-Ungück. Die Marine patrouillierte auch weitab der eigenen Küste.
Die Kritik an der Mission, auch aus Berlin: Sie rettete viele Leben, sorgte aber wohl auch dafür, dass sich immer mehr Schiffe auf die Reise machten. Im Notfall würden die Italiener zur Rettung kommen.
Daraus wurde ein Vorwurf an Rom: Ihr lockt die Flüchtlinge an - und lasst sie dann weiterziehen. Das Ergebnis: Europa beteiligte sich nicht an den Kosten für «Mare Nostrum», das Programm wurde eingestellt. Die Hoffnung der Nordländer lautete, dass ohne «Mare Nostrum» weniger Flüchtlinge kommen würden. Nun ist klar: Das war ein Irrtum.
Die Ablösung, die viel kleinere Frontex-Mission «Triton», sollte eigentlich vor allem die Grenzen schützen, muss aber auch immer öfter Leben retten. Nur 22 der 28 Mitgliedsländer finanzieren sie - London lehnt selbst diese Operation ab. Das lässt ahnen, wie gross der Widerstand gegen eine Neuauflage von «Mare Nostrum» unter den Nordländern wäre.
Die EU-Kommission will im Mai eine neue Flüchtlingspolitik vorstellen. Doch in der «Europäischen Agenda für Migration» wird es schwer, die Interessen von Nord- und Südländern auszugleichen. Die EU will vor allem enger mit Herkunftsstaaten und Transitländern der Flüchtlinge zusammenarbeiten. Es wird geprüft, ob man sogenannte Asylzentren vor Ort aufbauen könnte - dass also dort entschieden wird, wer nach Europa darf und wer nicht.
Wer Verantwortung trägt in Berlin oder in Brüssel, flüchtet sich nun wie so oft in diese zwei Sätze: Man müsse die Lebenssituation vor Ort verbessern, damit sich gar nicht erst so viele auf den Weg machten. Und die Anrainerstaaten in Nordafrika dürften die maroden Kähne gar nicht erst losfahren lassen.
Doch wer soll dafür sorgen? Libyen, Startpunkt der meisten Schlepperfahrten, ist ein zerfallener Staat, in dem sich zwei Regierungen, Milizen und der «Islamische Staat» bekriegen. Niemand hat hier Musse, die Küsten zu sichern. Auch Ansprechpartner im zerbombten Syrien oder in der finsteren Diktatur Eritrea zu finden, wird schwierig. Kurz- oder mittelfristig ist hier wenig zu erreichen.
Es gibt die Dublin-II-Regel, nach der Asylanträge nur im Ankunftsland gestellt werden können, die in der Praxis gebrochen wird. Gemeinsame Leitlinien fehlen, es gibt keine Verträge zwischen Ländern oder ein Modell zur Rettung Schiffbrüchiger ausserhalb der Handvoll Frontex-Schiffe.
Die Konzeptlosigkeit der Politik hat private Initiativen angetrieben: Die Organsationen Ärzte ohne Grenzen will ab Mai mit ihrem eigenen Boot schiffbrüchige Flüchtlinge aufsammeln und nach Italien bringen. Ähnliches plant von Malta aus eine Initiative aus Brandenburg.
Dass ein paar Rettungsschiffe nicht die Katastrophen verhindern können, zeigt der aktuelle Fall. Überlebende des grossen Unglücks vor der libyschen Küste berichteten in Italien, dass das Drama just in dem Moment eskalierte, als ein Schiff der italienischen Küstenwache in Sicht kam. Viele Passagiere hätten sich auf jene Seite des überladenen Kahns gedrängt, von der sich die vermeintliche Rettung näherte.
Das brachte das Schiff zum Kentern.