Moutier ist ein Ort, der fast keinen Nebel kennt. Das liegt daran, weil die hohen Juraketten das Städtchen gegen Norden und gegen Süden abschirmen. Bemerkenswert ist diese meteorologische Tatsache auch, weil sie der politischen Realität diametral widerspricht. Denn Moutier stochert seit vielen Jahren im Nebel, wenn es um die Frage geht, ob die Stadt zum Kanton Jura oder zum Kanton Bern gehört.
Zum neunten Mal stimmt Moutier am Sonntag darüber ab. Manche glauben, dass damit die Jurafrage endgültig geklärt werde. Andere haben die Hoffnung aufgegeben. Der Bund wacht mit Argusaugen über die Abstimmung. Vor zwei Wochen ist Bundesrätin Karin Keller-Sutter nach Moutier gereist, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Sie traf sich mit Pierre Alain Schnegg, dem Präsidenten der Berner Kantonsregierung, seinem jurassischen Pendant Nathalie Barthoulot sowie einer Delegation des Gemeinderates von Moutier. Dieses Mal muss es also klappen.
Nachdem die Abstimmung von 2017 wegen Unregelmässigkeiten für ungültig erklärt wurde, hat der Bund für kommenden Sonntag einen aussergewöhnlichen Aufwand betrieben. Er verschickte die Abstimmungsunterlagen und überwacht sogar den Urnengang. Bewohnern im Altersheim oder im Spital, die unter Beistandschaft stehen, wurde das Couvert persönlich ausgehändigt, damit niemand die Stimmrechtscheine abfangen und ausfüllen kann. Die Abstimmungszettel sind alle mit einem Wasserzeichen versehen. Auch Abstimmungsbeobachter, die sonst im Ausland zum Einsatz kommen, wurden für kommenden Sonntag nach Moutier aufgeboten. Es ist wahrlich ein beispielloses Spektakel in der Geschichte der Schweizer Demokratie.
In der Woche vor der Abstimmung ist es allerdings ruhig in Moutier. Zwei angefragte Passanten sagen, dass sie für einen Kantonswechsel stimmen werden. Warum? «Das Herz hat seine eigenen Gründe.» Es ist der Slogan der projurassischen Seite. Von einem hitzigen Abstimmungskampf ist nichts zu spüren. Zumindest nicht in den Strassen, was grösstenteils den Corona-Massnahmen geschuldet ist. Doch die beiden Lager – Projurassier und Berntreue – geben sich in den sozialen Medien sowie in den Leserbriefspalten der Lokalpresse ordentlich aufs Dach. So sagen die Berntreuen: «Das Herz mag jurassisch sein, doch das Portemonnaie ist bernisch.»
Der Stadtpräsident von Moutier, Marcel Winistoerfer, empfängt im Rathaus. Er ist überzeugter Projurassier, hat sein ganzes Leben in Moutier verbracht, ist aber erst mit 49 Jahren in die Politik eingetreten. Winistoerfer sagt: «Der Graben ist vor allem im Parlament spürbar, aber nicht im Alltag der Bevölkerung.» Er selbst trägt eine Weste vom berntreuen Schneider nebenan. Für ihn sei der Kantonswechsel ein natürlicher Prozess. Er sagt: «Diese Frage müsste sich gar nicht stellen.»
Winistoerfer arbeitet seit 40 Jahren als Oberstufenlehrer. Auch einer seiner Söhne ist Lehrer und wohnt in Moutier. Wie er die Menschen hier beschreiben würde? «Sehr fein und präzis.» Diese Antwort passt zur Tatsache, dass Moutier für seine feinmechanischen Betriebe berühmt ist. Ob man den Leuten ansehe, auf welcher Seite sie stehen? «Äusserlich nicht, aber im Gespräch wird es schnell klar.» Je nachdem, welche Musik man hört, oder aus welchem Blickwinkel man Moutiers Geschichte betrachtet. «Wenn jemand gerne an Schwingfeste reist, ist er wohl eher wie die Berntreuen eingestellt», sagt Winistoerfer augenzwinkernd.
Hört man sich um, so soll es auch kulturelle und charakterliche Unterschiede geben zwischen den zwei Lagern. Die Projurassier gelten als extrovertierte Lebemenschen. Ihr grosser Fürsprecher ist Valentin Zuber, der scharfzüngig und aggressiv für die separatistische Sache einsteht. Die Berntreuen gelten als zurückhaltend und introvertiert, in ihrer Kampagne fehlt eine zentrale Leuchtfigur. Der Lampendesigner Steve Léchot ist zwar als Vertreter der Berntreuer häufig in den Medien, doch mit Zuber scheint er nicht mithalten zu können. So jedenfalls die gängige Meinung in Moutier.
Draussen auf dem Platz vor dem Gemeindeamt stellt sich die Frage: An welchem anderen Ort in der Schweiz hängt am Rathaus die Flagge eines anderen Kantons? Mit diesen Gedanken geht es zu «Moutier Plus», dem probernischen Abstimmungskomitee.
Die Hauptstrasse ist gesäumt von projurassischen Plakaten. Das Treffen findet bei Marcelle Forster zuhause statt. Von der Stube aus blickt man direkt auf die mächtigen Juraketten. Die SP-Politikerin ist eine Galionsfigur der berntreuen Bewegung. Sie ist eine Pragmatikerin. Anwesend ist auch Morena Pozner, Leiterin eines Pflegeheims und ebenfalls SP-Politikerin in Moutier. Immer wieder verweisen die beiden auf Zahlen und Berechnungen, zeigen auf, welch herben wirtschaftlichen Schaden Moutier bei einem Kantonswechsel drohen würde.
fragt Pozner rhetorisch. «Wir sind keine Romantiker, es geht uns um Realpolitik.» Nur schon der Transfer würde horrende Kosten verursachen. «Die Welt wird immer globaler, Grenzen schwinden, doch ausgerechnet bei uns streitet man sich um den Verlauf einiger Kilometer», so Forster, die früher Gemeinderätin in Moutier war.
Besondere Brisanz hat das Regionalspital in Moutier, bei dem nicht abschliessend geklärt sei, wie es nach einem Kantonswechsel weitergehe. Ein Spital könne keine Leistungen erbringen, wenn der Kanton ihm nicht die entsprechenden Mittel zur Verfügung stelle. Der Kanton Jura habe bis jetzt keine feste Zusage für den Fortbestand des Spitals gemacht. «Es gibt keine Sicherheit, dass das Gesundheitssystem für Betagte einen Wechsel zum Jura verkraften wird, ohne dass den einkommensschwachen Bewohnern grosse Nachteile entstehen würden», so Pozner.
Beide Lager glauben an einen Sieg. Beide hoffen und bangen. Ein grosser Knackpunkt ist das Stimmregister, das der Abstimmung von 2017 zum Verhängnis wurde. Vor allem falsche Wohnsitze führten zur Annullierung der Abstimmung. Deshalb haben die Gemeinde Moutier, die beiden Kantone Bern und Jura sowie der Bund zusammen entschieden, dass das Stimmregister akribisch überprüft werden muss. Die Berner Staatskanzlei erhielt sogar die Befugnis, direkt auf das Stimmregister zugreifen zu können. 800 Briefe seien verschickt worden, um die Wohnsituation von Einzelnen zu überprüfen, sagt der Juradelegierte des Bundes, Jean-Christophe Geiser.
Kaum jemand kennt den Jura-Konflikt in all seinen verschiedenen Facetten wie er. Doch er sei neutral, sagt er. «Eine absolute Garantie, dass die Abstimmung nicht erneut für ungültig erklärt wird, gibt es nicht.» Bei der letzten Abstimmung 2017 betrug die Differenz nur 137 Stimmen. Kein Wunder, liegen die Nerven blank. Wie wird die Abstimmung ausfallen? Werden die Verlierer einen Rekurs einreichen? Werden die Leute trotz Pandemie-Vorgaben vor das Rathaus strömen? Findet die Jurafrage endlich zu einer Antwort? Am Sonntag wird sich der Nebel lichten. Vielleicht. (aargauerzeitung.ch)
Je nach Behandlung kann das ganz schnell sehr Teuer werden.
Zyniker würden sagen Freiheit hat seinen Preis aber es wird die Armen am Härtesten Treffen, unabhängig davon ob sie Pro Jura oder Pro Bern sind