Ein Mann kniet sich vor das Grab einer Frau. Nimmt sein bestes Messer und steckt es vor ihrem Grabstein in die Erde. Für immer. Das Messer ist seine Opfergabe, für eine, die er zu verstehen glaubt. Der Mann ist Anthony Bourdain. Ein Koch aus New York, der zufälligerweise weltberühmt geworden ist, weil er über das harte Leben in den Küchen geschrieben hat. Die Frau ist Mary Mallon. Eine Köchin aus New York, die zufälligerweise weltberühmt geworden ist, weil sie als erster Superspreader in die Geschichte einging.
Mary Mallon ist ein armes Mädchen aus Nordirland. Als ihre Mutter mit ihr schwanger war, hatte sie Typhus, möglicherweise ist Mary bereits im Bauch ihrer Mutter zur Typhusträgerin geworden. Aber sie ist gesund und stark und besteigt 1884 mit 15 Jahren ein Schiff nach New York. Zuerst arbeitet sie als Dienstmädchen, doch bald wechselt sie in den mehr als doppelt so gut bezahlten Job einer Köchin. Gut bezahlt bedeutet, dass sie auf heute umgerechnet etwa 1400 Dollar im Monat verdient. Ein Gehalt, das ihr nicht erlaubt, krank zu sein oder Urlaub zu nehmen.
Mary ist eine gute Köchin, besonders ihr Pfirsichglacé begeistert die reichen Familien, und wenn sie eine neue Stelle will, findet sie diese sofort. Mary will öfter eine neue Stelle. Und einen neuen Namen. Denn wo Mary arbeitet, erkranken die Leute an Typhus. Haben Fieber, schweres Kopf- und Bauchweh, Durchfall und Darmblutungen. Angestellte wie Herrschaften. Nur Mary ist immer gesund.
Auf die Idee, dass sie selbst die Ursache sein könnte, kommt sie nicht, dafür ein Detektiv, der von einem Banker den Auftrag erhält, den Grund für die Erkrankung seiner Familie und den Tod seiner Tochter zu finden. Mary hatte bei dem Banker auf Long Island gearbeitet, in einem Ort, wo es zuvor noch nie einen Typhusfall gegeben hatte. Der Detektiv hat von andern Typhus-Fällen in der New Yorker High Society gehört. Und von einer irischen Köchin, deren Beschreibung auf Mary zutrifft. Als er sie damit konfrontiert, will sie ihn erst mit einer Serviergabel erstechen. Ab da trägt sie den Namen «Typhoid Mary».
Sie gilt jetzt als «Public Health Threat», als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit, und wird verhaftet. Stuhlproben belegen einen hohen Gehalt an Typhus-Erregern. Hygiene-Massnahmen kennt sie keine. Ihre Hände wäscht sie im Lauf eines Tages nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.
Man müsse sich ihre Arbeitssituation um 1900 folgendermassen vorstellen, sagt Anthony Bourdain, der 2001 das Buch «Typhoid Mary: An Urban Historical» über sie veröffentlicht (und der inzwischen selbst in Frieden ruht): Eine enge, schmutzige, luftlose Küche, die Lunge von Rauch und Fettdämpfen geschädigt, der Magen übersäuert, Alkohol immer in Griffnähe, rund um die Uhr arbeitsbereit, dazu allein, eine Frau, eine Ausländerin, keine kollegiale Pufferzone zwischen Küche und Speisenden wie in einem Restaurant.
Er nennt sie eine «Sklavin». Aber bei aller Härte eine mit einem eigenen Reich. Wo trotz Dreck, Rauch und Fett Ordnung und Routine herrschen und perfekte, aber gefährliche Speisen wie Pfirsichglacé hergestellt werden. Ganz im Gegensatz zum Leben der Reichen, das aus Zerstreuung und Dekadenz besteht. Aus reiner Zeit- und Geldvernichtung und glänzenden Fassaden, hinter denen sich Kloaken und Küchen wie die von Mary verbergen. Bourdain schwört, dass er an ihrer Stelle mit Absicht keine Rücksicht auf die Gesundheit seiner Arbeitgeber genommen hätte.
Für gut drei Jahre muss Mary Mallon ins Quarantäne-Hospital auf North Brother Island, diverse Therapien werden angewandt, die ihre Organe schädigen, die Entfernung der Gallenblase wird vorgeschlagen, was allerdings nur die wenigsten überleben. Dann wird sie freigelassen. Unter der Auflage, nie mehr als Köchin zu arbeiten.
Zuerst versucht sie sich als Wäscherin. Und verdient dabei auf heute umgerechnet etwas zwischen 500 und 600 Dollar im Monat. Eine Verletzung zwingt sie zu einer Arbeitspause. Komplett verarmt, nimmt sie wieder eine Stelle als Köchin in einem Frauenspital an. Und alles geht von vorne los: Leute erkranken, sie fliegt auf, sie flieht, wird verhaftet und wird die nächsten 23 Jahre bis zu ihrem Tod im Jahr 1938 auf North Brother Island verbringen. Die letzten davon darf sie im Labor des Quarantänespitals arbeiten und bei der Erforschung von Krankheitserregern mithelfen.
Sie ist eine Freak-Celebrity: Journalisten besuchen sie unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen, es ist ihnen nicht gestattet, in Marys Gegenwart etwas zu trinken oder zu essen. Sie ist das Gesicht einer Seuche. Obwohl sie natürlich nicht der einzige Typhus-Superspreader in New York ist.
Aber sie fasziniert mehr als die andern. Gerade weil sie eine Frau, allein, stark und gesund ist. Der «Sklavin» werden besondere Freiheiten angedichtet. Sexuelle Potenz. Was die Bedrohung, die von ihr ausgeht, natürlich noch prickelnder macht. Ihre Bilanz ist makaber genug: 3 Tote und 51 Erkrankte.
Übertroffen wird sie nur noch von Tony La Bella, einem italienischstämmigen Milchlieferanten aus Newark, der zeitgleich mit ihr mindestens 100 Menschen infiziert, von denen 5 sterben. Doch nur Mary wird verewigt. In Romanen und Sachbüchern und einer Nachempfindung ihres Lebens durch Anthony Bourdain, der sagt, ihr, genau ihr würde er sofort eine Stelle geben. Ob er sich das wirklich gut überlegt hat? Aber wer weiss, vielleicht stehen sie jetzt im Himmel Seite an Seite an einem Herd und machen Pfirsichglacé und Ile flottantes aus frischen Schäfchenwolken.
P.S. Auf vielfache User-Anregung sei hier noch nachgetragen, dass der Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel 1982 den Roman «Die Ballade von der Typhoid Mary» veröffentlicht hat. Allerdings ist er sehr freizügig mit der Geschichte umgegangen und hat Mary bereits 1868, also ein Jahr vor ihrer Geburt, nach New York auswandern lassen.