Es ist kurz nach 6 Uhr früh, als die Dinge ihren Lauf nehmen, sich die Wagenkolonne in Bewegung setzt. Das Ziel: ein Reihenhaus in einer typischen nordenglischen Vorstadt, schlicht und übersichtlich. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei zertrümmert die Haustür, stürmt mit schwerem Geschütz in den ersten Stock. Da liegt ein 13-jähriger Junge im Bett, der sich erst mal in die Hosen macht. Dann wird er festgenommen.
Während der Fahrt wird Jamie Miller über seine Rechte belehrt, auf der Wache muss er sich ausziehen, Blut- und DNA-Proben werden abgenommen. Ein Verteidiger im Anzug erscheint, Formalitäten werden abgehandelt, das Verhör beginnt. Jamie soll eine Mitschülerin auf einem Parkplatz mit dem Messer ermordet haben. «Ich weiss nicht», sagt er ständig, eingeschüchtert und verstört, «ich war das nicht». Bis ihm die Polizisten die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen.
Dies und alles Weitere geschieht in einer einzigen fliessenden Kamerabewegung; die vier in unterschiedlichen Settings spielenden Folgen von «Adolescence» sind jeweils als «One Shot» gedreht. Das heisst, ausschliesslich mit Plansequenzen, ohne sichtbaren Schnitt, in Echtzeit. Im Kino kennt man das in den letzten Jahren aus Filmen wie «Birdman», «1917» oder «Victoria».
Technisch ist das stets aufwendig, erfordert detaillierte Planung, stellenweise wird digital nachgeholfen. Am Ende kann es leicht wie ein aufschneiderisches Gimmick wirken. Nicht hier. Stattdessen verstärkt die durchgehende Kamerabewegung die hyperrealistische Nahbarkeit und Sogwirkung. «Adolescence» von Regisseur Philip Barantini guckt man eher nicht nebenbei beim Kochen.
Die viel bemühte Metapher von der emotionalen Achterbahnfahrt trifft auf die unter anderem von Brad Pitt produzierte britische Miniserie ausnahmsweise vollständig zu. Denn später, in der sensationellen dritten Episode, erleben wir einen anderen Verdächtigen. Einen, der pfiffig sein kann, sarkastisch – und extrem selbstzerstörerisch.
Wir können unserer ersten Wahrnehmung von Jamie nicht unbedingt trauen. Er steckt voller Unsicherheiten und Widersprüche, hält sich für hässlich und minderwertig und rastet gegenüber der Psychologin komplett aus, sobald sie sich wunden Punkten nähert. Owen Cooper spielt bei seiner ersten Rolle so vielschichtig und eindringlich wie der gesamte Cast.
Der kann sich auf das clevere Drehbuch der beiden Serienschöpfer Jack Thorne und Stephen Graham verlassen, das sein Publikum ständig auf andere Fährten führt und aus Sicherheiten reisst, ohne jemals pädagogisch zu werden. Es geht gar nicht um den Mord selbst, sondern um die komplexen Umstände, die zu ihm geführt haben.
Durch die vielen Leerstellen, die diese Mischung aus Thriller und Familiendrama wagt, bleiben einige Fragen offen: Was genau haben Jamies Kumpels mit dem Mord zu tun? Hat ihn das Opfer wirklich schikaniert? Welche Rolle spielt der Vater, ein Klempner, der darauf achtet, dass seine Kinder nicht fluchen, aber sein Temperament ebenfalls nicht immer im Griff hat?
Die Serie überlässt etliches der Interpretation. Der Titel «Adolescence» wird zum Programm für einen Konflikt zwischen den Generationen. Die über ihren Smartphones versunkenen Jugendlichen haben sich völlig der Kontrolle und Autorität der Erwachsenen entzogen.
Diese stehen ausserhalb des digitalen Kosmos, fragen hilflos: Was bedeutet das Pillen-Emoji, was das mit der Kidneybohne? Wie funktioniert diese «manosphere», in der Fitness-Influencer wie Andrew Tate archaisch und hierarchisch den starken Mann markieren? Von der Incel-Ideologie hat der ermittelnde Polizist wohl schon gehört. Aber so wirklich angekommen ist das alles noch nicht.
Immer wieder schimmern wacklige Männlichkeitsvorstellungen durch, die toxisch wirken können. Mal subtil, mal heimtückisch unvermittelt wie im Baumarkt. Dort erkennt einer der Angestellten Jamies Vater und will sich mit ihm solidarisieren: «Ich bin auf Ihrer Seite, ich glaube an Jamies Unschuld. Wenn man schon solche Stichwunden erfindet, sollten sie wenigstens anatomisch möglich sein!»
Auf Netflix ist vieles auf den schnellen Klick ausgelegt, auf Kompatibilität und Kommensurabilität, bleibt Content, gerät schnell in Vergessenheit. «Adolescence» hingegen macht erzählerisch und filmisch alles richtig, was andere falsch machen. Und endlich wird eine Geschichte konsequent zu Ende erzählt, ohne dass eine Hintertür für eine überflüssige Fortsetzung offen bleibt. Die braucht es in dem Fall nicht, diese vier Stunden Serienereignis bieten genug Stoff, um noch lange Diskussionen zu führen. (aargauerzeitung.ch)
«Adolescence»: Vier Folgen à rund sechzig Minuten auf Netflix.
Einen Artikel darüber, wie man US Produkte vermeiden kann/ soll. Hab schon fast ein schlechtes Gewissen.
Und direkt darunter Werbung für eine neue Netflixserie..